Das Virus Sars-CoV-2 ist damit nicht besiegt, wie Tedros betonte. Es zirkuliert weiter in der Welt, ist gefährlich und kann jederzeit noch gefährliche Varianten entwickeln. Er beklagte den Schaden, den COVID-19 der Weltgemeinschaft zugefügt habe und sagte, das Virus habe Unternehmen zerstört, politische Spaltungen verschärft und Millionen in Armut gestürzt. Tedros bemerkte auch, dass es wahrscheinlich mindestens 20 Millionen COVID-19-Todesfälle gab, weit mehr als die offiziell gemeldeten 7 Millionen.
Dennoch folgte die WHO der Empfehlung eines unabhängigen Expertenausschusses, weil sie überzeugt ist, dass die Welt gute Werkzeuge hat, um die Menschen vor dem Virus zu schützen. Dazu gehören neben den Impfstoffen und Medikamenten auch Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Masken oder das Abstand halten in vollen und schlecht belüfteten Innenräumen. Allein das solidarische UN-Impfprogramm Covax hat einer Analyse zufolge bis Ende 2022 in Ländern mit niedrigen Einkommen 2,7 Millionen Menschenleben durch Corona-Impfungen gerettet.
Nach WHO-Statistiken erleben deutlich weniger Menschen einen schweren Verlauf der Krankheit Covid-19 als zu Beginn der Pandemie, als es noch keine Impfstoffe und Medikamente gab. Dennoch wurden der WHO allein vom 3. bis 30. April dieses Jahres nahezu 2,8 Millionen neue Infektionen und über 17.000 Todesfälle gemeldet. Da aber in vielen Ländern kaum noch getestet wird, gilt dies nicht als akkurates Bild der Lage.
Wenn die WHO einen Gesundheitsnotstand ausruft, will sie Regierungen und die Öffentlichkeit aufrütteln, damit sie eine Bedrohung ernst nehmen und sich vorbereiten. Welche konkreten Empfehlungen oder Einschränkungen verhängt werden, entscheidet jede Regierung für sich. Die WHO gibt lediglich Empfehlungen ab. Die WHO appelliert nach wie vor an die Regierungen, nicht zur Tagesordnung überzugehen. Seit Monaten bittet sie, dass mehr Corona-Tests durchgeführt und Viren genetisch untersucht werden. Nur so sei eine Übersicht über die Verbreitung möglicher neuer Varianten möglich.
Als die WHO den Corona-Gesundheitsnotstand am 30. Januar 2020 ausrief, waren außerhalb Chinas rund 100 Infektionen in rund 20 Ländern bekannt und keine Todesfälle. Inzwischen wurden der WHO zufolge weltweit rund 765 Millionen Infektionen und gut 6,9 Millionen Todesfälle gemeldet. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher ist. Unter anderem werden Todesursachen nicht überall korrekt zugeordnet.
Dr. Michael Ryan, Leiter der WHO für Notfälle, sagte es obliege den Staatsoberhäuptern und anderen Führungspersönlichkeiten, angesichts der zahlreichen Probleme, die die Reaktion der Welt auf COVID-19 lahmgelegt hätten, zu entscheiden, wie künftigen Gesundheitsbedrohungen begegnet werden solle. Die Länder verhandeln über einen Pandemievertrag, der hoffentlich darlegen kann, wie zukünftigen Krankheitsbedrohungen begegnet wird – aber es ist unwahrscheinlich, dass ein solcher Vertrag rechtsverbindlich wäre.
Die WHO hat seit 2005 sieben Mal einen Gesundheitsnotstand ausgerufen - offiziell eine "gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite" (PHEIC - Public Health Emergency of International Concern). Der Corona-Notstand war der zweitlängste. Der längste gilt für Polio und besteht seit 2014. Seit Juli 2022 gilt auch eine Notlage wegen Affenpocken. Notlagen wurden auch wegen des Influenza-A-Virus H1N1 (2009-2010), wegen Ebola in Westafrika (2014-2016), Zika (2016) und Ebola in der Demokratischen Republik Kongo (2019-2020) ausgerufen.
dp/fa