
US-Regierung zu Lieferung schwerer Waffen an Ukraine: "Es ist Deutschlands Entscheidung"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die EU-Staaten eindringlich zur Lieferung moderner Panzer und Flugabwehr für den Abwehrkampf gegen Russland aufgerufen. In einer Videoansprache beim Gipfel in Brüssel bat er die 27 Staats- und Regierungschefs am Donnerstag auch um Gas- und Stromlieferungen in großem Umfang, um die Zerstörung der Infrastruktur durch russische Angriffe zu kompensieren.
"Ich bitte Sie darum, Führung zu zeigen", sagte Selenskyj. "Derjenige, der als erster moderne Panzer liefert, eröffnet die Möglichkeit für Lieferungen aus der ganzen Welt und wird als einer der größten Verteidiger der Freiheit unserer Zeit im Gedächtnis bleiben." Es gebe keinen rationalen Grund, warum die Ukraine die Panzer nicht zum jetzigen Zeitpunkt bekommen sollte. Dasselbe gelte für weitreichende Artillerie- und Raketensysteme, die das Ende der russischen Aggression schneller herbeiführen könnten. "All das würde eine direkte Rettung von Millionen Menschenleben bedeuten."
Die Ukraine bittet ihre Verbündeten seit langem um Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart. Nach ukrainischen Angaben laufen derzeit Gespräche mit der Bundesregierung über die Lieferung der deutschen Fabrikate Leopard 2 und Marder. Bundeskanzler Olaf Scholz will solche Panzer nicht liefern, solange sie auch von anderen Bündnispartner nicht bereitgestellt werden. Es werde keinen deutschen Alleingang in dieser Frage geben, hat der SPD-Politiker immer wieder betont.
Die US-Regierung hätte allerdings kein Problem damit, wenn Deutschland bei dem Thema voranmarschieren würde. "Es ist Deutschlands Entscheidung", hatte Vizeaußenministerin Wendy Sherman vor wenigen Tagen gesagt. Medienberichten zufolge planen die USA selbst nun die Lieferung von Patriot-Flugabwehrsystemen. Selenskyj sagte vor den Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten, die nächsten sechs Monate würden im Abwehrkampf gegen Russland in vielerlei Hinsicht entscheidend sein. Um die Energieversorgung der Ukraine sicherzustellen, bat er um die Lieferung von zwei Milliarden Kubikmetern Gas und Strom im Wert von 800 Millionen Euro.
Der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj hat neue Waffen für einen Sieg über die russische Armee gefordert. "Ich brauche 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen", sagte der 49-Jährige in einem Interview der britischen Zeitschrift "Economist" vom Donnerstag.
Damit sei es möglich, die russischen Truppen auf die Positionen vor dem Einmarsch am 24. Februar zurückzudrängen, sagte Saluschnyj. Derzeit erhalte er jedoch weniger Mittel, als er benötige. Größere Operationen seien damit nicht durchführbar, trotzdem werde gerade eine neue ausgearbeitet. "Sie ist auf dem Weg", versicherte der General.
Zugleich rechnet Saluschnyj im kommenden Jahr mit einer neuen russischen Großoffensive. "Im schlimmsten Fall Ende Januar", sagte er. Die Russen würden rund 200 000 frische Soldaten dafür ausbilden. Die ukrainische Armee ihrerseits bereite ebenfalls eigene Reserven dafür vor. Ob die Offensive im ostukrainischen Donbass starten werde, im Süden, oder aus der nördlich angrenzenden Ex-Sowjetrepublik Belarus mit Stoßrichtung direkt auf Kiew, könne er noch nicht sagen. Dennoch werde die ukrainische Hauptstadt früher oder später erneut Ziel sein. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie Kiew erneut angreifen werden", sagte Saluschnyj.
Russland ist Ende Februar in die Ukraine einmarschiert. Bereits Ende März musste sich die russische Armee aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew zurückziehen. Insgesamt haben die von Saluschnyj befehligten ukrainischen Einheiten den Russen inzwischen mehr als die Hälfte des seit Februar eroberten Territoriums wieder abgerungen. Dennoch kontrolliert Moskau einschließlich der bereits 2014 annektierten Krim weiter gut 18 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets.
Über die Verschärfung der Sanktionen gegen Russland gab es Streit beim Gipfel. Deutschland forderte gemeinsam mit Ländern wie Frankreich und den Niederlanden, im Zuge des geplanten neunten Sanktionspakets bestehende Regeln für die Strafmaßnahmen zu ändern, um Beeinträchtigungen des Handels mit Agrarprodukten und Düngemitteln zu vermeiden.
Andere Länder wie Polen und Litauen sehen Berichte über angeblich durch Sanktionen verhinderte Agrarexporte hingegen als russische Propaganda und wollten bis zuletzt keine Änderungen akzeptieren. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte, in Brüssel seien russische Lobbyisten und Agenten sehr aktiv. Diese wollten dafür sorgen, dass die EU-Sanktionen gelockert würden.
Nach Angaben von Diplomaten signalisierte die polnische Regierung am Rande des Gipfels, das Beschlussverfahren für vier bereits am Montag vereinbarte Entscheidungen nicht weiter aufzuhalten. Dazu gehört, Ungarn wegen unzureichender Korruptionsbekämpfung bis auf Weiteres 6,3 Milliarden Euro aus dem EU-Gemeinschaftshaushalt vorzuenthalten. Zudem geht es um eine wichtige Richtlinie für die internationale Mindeststeuer für große Unternehmen, umfangreiche EU-Hilfen für die Ukraine sowie den ungarischen Plan zur Verwendung von Corona-Hilfen.
agenturen/pclmedia