Der Betreiber von Nord Stream 1 sprach später von metertiefen Kratern und weit verteilten Trümmern am Meeresgrund. Nord Stream 1 und 2 verlaufen jeweils als Unterwasser-Doppelstrang über eine Strecke von rund 1200 Kilometern von Russland nach Deutschland. Nord Stream 1 lieferte seit 2011 einen erheblichen Anteil des nach Europa importierten Gases. Allerdings hatte Moskau die Lieferungen im Zuge der Konfrontation mit dem Westen nach seinem Angriff auf die Ukraine schon vor der Zerstörung gedrosselt - und dann ganz eingestellt. Die neuere Nord-Stream-2-Pipeline war bereits mit Gas gefüllt, aber mangels Zertifizierung noch nicht in Betrieb.
Dass es kein Unfall war, urteilte die schwedische Staatsanwaltschaft bereits vor mehr als einem halben Jahr. Die Explosionen ließen sich auf schwere Sabotage zurückführen, erklärte der Staatsanwalt Mats Ljungqvist Mitte November. Analysen hätten Sprengstoffreste an mehreren Fremdkörpern gezeigt. Ex-BND-Präsident Gerhard Schindler hatte der "Welt" kurz nach dem Vorfall gesagt, eine "unbemerkte, konspirative Beschädigung von Pipelines in 80 Meter Tiefe in der Ostsee" weise klar auf einen staatlichen Akteur hin.
In Deutschland haben die Ermittler Berichten zufolge eine gecharterte Segeljacht in den Fokus genommen, mit der das Sabotageteam mutmaßlich unterwegs war. ARD, SWR und "Zeit" hatten im März berichtet, dass ein Kommando den Ermittlungen zufolge von Rostock aus in See gestochen sein soll. Spuren sollen demnach auch in die Ukraine führen. So hieß es in dem Bericht, die Jacht soll von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sein, die offenbar zwei Ukrainern gehöre. Auch von Zwischenstopps der Jacht in Wiek auf Rügen und an der dänischen Insel Christiansø nordöstlich von Bornholm war die Rede. Späteren Medienberichten zufolge handelte es sich um das Schiff "Andromeda" eines Vermieters von der Insel Rügen.
Tatsächlich bestätigte die Bundesanwaltschaft, die seit Mitte Oktober in der Sache ermittelt, man habe im Januar ein verdächtiges Schiff durchsuchen lassen. Zudem erkundigte sich das Bundeskriminalamt nach Angabe eines der Betreiber des Jachthafens in Wiek nach Schiffsankünften im September 2022. Dänische Behörden haben zudem auf Christiansø nach einem Boot im fraglichen Zeitraum gesucht.
Laut Staatsanwaltschaft in Danzig weisen die polnischen Ermittlungen darauf hin, dass die Jacht tatsächlich mit sechs Menschen auch nach Polen gesegelt sei und einen Hafen angefahren habe. Nach einem zwölfstündigen Aufenthalt habe sie die polnischen Hoheitsgewässer aber wieder verlassen. Während des Aufenthalts seien keine Gegenstände an Bord genommen worden, auch der Grenzschutz habe die Besatzung kontrolliert. Es gebe aber keine direkten Beweise für eine Beteiligung der Personen auf der "Andromeda" an der Beschädigung der Nord-Stream-Pipelines. Polnische Medien hatten zuvor schon unter Berufung auf Ermittler berichtet, es gebe keine Beweise dafür, dass die Jacht aus Polen in das Gebiet der Pipeline-Schäden gesegelt sei.
Eine Spur der deutschen Ermittler führt auch ins brandenburgische Frankfurt-Oder. Hier wurde laut Bundesanwaltschaft die Wohnung einer nicht verdächtigen Person am 25. Mai durchsucht. Nach Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" soll es sich dabei offenbar um die ehemalige Lebensgefährtin eines ukrainischen Tatverdächtigen handeln. Während in Deutschland vor allem die "Andromeda" im Zentrum von Berichten und Spekulationen steht, gilt die mediale Aufmerksamkeit in Skandinavien in erster Linie einer anderen Spur - und die führt nach Russland. Wie Investigativjournalisten aus Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland in einer aufwendigen Dokumentation berichteten, haben sich in den Monaten und Tagen vor den Explosionen mehrere russische Militärschiffe in der Nähe der Tatorte aufgehalten.
Dabei sollen die Schiffe ihre Sender abgestellt haben und somit unter dem Radar gefahren sein. Ein Flottenschiff mit abgestelltem Sender und der Möglichkeit zu Unterwassereinsätzen, der Schlepper "SB-123", sei fünf Tage vor den Detonationen an den Explosionsorten gewesen, zwei weitere - die "Sibirjakow" und ein anderes, das nicht identifiziert wurde - bereits im Juni. Das dänische Militär hatte zuvor bereits bestätigt, dass das russische Spezialschiff "SS-750" vier Tage vor den Detonationen in Tatortnähe fotografiert worden war. Das Schiff verfügt über ein Mini-U-Boot mit Greifarmen.
Für Aufsehen sorgte jüngst ein Artikel in der "Washington Post", demzufolge die US-Regierung drei Monate vor den Explosionen von einem europäischen Geheimdienst von einem Plan des ukrainischen Militärs erfahren haben soll. Demnach sollte ein geheimer Angriff auf die Pipelines mithilfe von Tauchern durchgeführt werden. Auch wenn die USA die Berichte zunächst nicht unabhängig bestätigen hätten können, schrieb das Blatt weiter, seien die Informationen mit den Geheimdiensten Deutschlands und anderer Länder geteilt worden. Das Weiße Haus kommentierte den Bericht nicht.
Die Glaubwürdigkeit frühzeitiger Hinweise wurde damals nach dpa-Informationen von denjenigen in den Sicherheitsbehörden, die davon wussten, als niedrig eingestuft. Was die deutschen Behörden dann nach dem Anschlag von einem ausländischen Nachrichtendienst hörten, soll deutlich konkreter gewesen sein und auch nützliche Ansatzpunkte für die Ermittlungen geliefert haben, die dann auch zu dem durchsuchten Boot führten. Im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages, das geheim tagt, war der Anschlag nach dpa-Informationen schon mehrfach Thema. Von belastbaren Ermittlungsergebnissen, die klar zu den Tätern weisen, ist jedoch bislang nichts zu hören. Wohl auch deshalb waren einige der wenigen Regierungs- und Behördenvertreter, die mit den Zwischenergebnissen vertraut sind, wenig begeistert, als Informationen zu dem gecharterten Boot und möglichen Spuren in Medienberichten auftauchten.
Die Bundesanwaltschaft kommentiert Medienberichte in der Regel nicht oder gibt sich nur wortkarg. Die offizielle und auch von Generalbundesanwalt Peter Frank zitierte Sprachregelung lautet: "Belastbare Aussagen hierzu, insbesondere zur Frage der staatlichen Steuerung, können derzeit nicht getroffen werden."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestritt eine Beteiligung seiner Regierung an den Sabotage-Aktionen. "Nichts dergleichen hat die Ukraine getan. Ich würde nie so handeln", sagte Selenskyj jüngst in einem Interview von "Bild", "Welt" und "Politico". Er forderte Beweise für solche Behauptungen. In der Ukraine selbst wird zu dem Vorgang nicht ermittelt.
Auch Polen bestreitet eine Verbindung zur Sabotage. "Die in Medien verbreitete Behauptung, Polen sei eine logistische Drehscheibe für die Sprengung der Nord Stream-Pipeline gewesen, ist völlig unwahr und wird durch die Beweise der Ermittlungen nicht gestützt", teilte die Staatsanwaltschaft in Danzig mit. Das "Wall Street Journal" hatte berichtet, deutsche Ermittler prüften Beweise, die darauf hindeuteten, dass das Sabotage-Team Polen als operative Basis genutzt habe. Der Sprecher des Koordinators der Geheimdienste, Stanislaw Zaryn, hatte auf Twitter geschrieben: "Die Hypothese bleibt gültig, dass die Sprengung von Russland begangen wurde, welches ein Motiv und die Fähigkeit hatte, eine solche Operation durchzuführen."
Moskau hat Vorwürfe, an der Sabotage von Nord Stream beteiligt zu sein, stets dementiert und fordert seit der Explosion der Pipelines im vergangenen Herbst, an den Untersuchungen beteiligt zu werden. Die Ermittlungen der Europäer kritisiert der Kreml als intransparent und zweifelhaft. Auf eigener Seite hat der russische Inlandsgeheimdienst FSB zwei Tage nach dem Vorfall ein Verfahren wegen Terrorismus eingeleitet. Auch das Zentrale Ermittlungskomitee ist an der Sache dran. Konkrete Ergebnisse hat Moskau bisher nicht präsentiert. Für Russland ist die Sache aber auch so klar: Die Nord-Stream-Pipelines wurden mithilfe westlicher Geheimdienste gesprengt.
Die Bundesanwaltschaft müsste am Ende ihrer Arbeit gerichtstaugliche Ergebnisse gegen konkrete Beschuldigte vorlegen. Was darunter fällt, stünde erst am Ende der Ermittlungen fest. Und diese können sich ziehen: Derzeit sei kein Abschluss in Sicht, sagte eine Sprecherin. Erst wenn in einigen Jahren die Verjährung eintritt, dürfe die Behörde nicht weiter ermitteln. Der schwedische Staatsanwalt Ljungqvist glaubt aber, dass man die Verantwortlichen für die Tat am Ende doch benennen kann. Er hoffe, dass man im Herbst Stellung zur Täterfrage nehmen könne - das sei zumindest das Ziel, sagte er jüngst im schwedischen Radio.
dp/fa