
Vor wenigen Tagen hätten sich in Moskau zurückgekehrte Soldaten beklagt, sie seien "wochenlang an der Front von Kopf bis Fuß durchnässt gewesen". Nicht einmal eine Tasse Tee hätten sich die Soldaten wegen der Brandgefahr in den Stellungen kochen können, schimpften die russischen Heimkehrer und jammerten auch über das "eintönige Essen" inmitten des "allgegenwärtigen Schlamms".
Vier bis fünf Wochen dauert in der Regel die regnerische Schlammperiode, ehe der Boden weitgehend gefroren ist. Die Ukraine hat in diesem Moment einen kleinen Vorteil: Der russische Vormarsch auf die schwer umkämpfte Stadt Awdijiwka ist wegen starker Regenfälle und schlammiger Wege im Matsch stecken geblieben. Das erklärte der Chef der Militärverwaltung von Awdijiwka, Vitaliy Barabash, im ukrainischen Fernsehsender Suspilne. "Wir hatten fast eine Woche lang heftigen Regen", sagte er. "Das Gelände ist zu schwierig und die Ausrüstung lässt sich nicht bewegen." Die "dritte Welle", wie er Russlands Angriffe auf Awdijiwka bezeichnet, habe sich im Schlamm festgefahren.
"Die Russen rücken sehr langsam auf Awdijiwka vor, aber sie kommen voran", sagt András Rácz, Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), am Rande eines Besuchs in der Ukraine. "Doch jetzt werden sie durch das Wetter und die Schlammperiode ausgebremst." Das bedeute jedoch nicht, dass die Kämpfe um Awdijiwka eingestellt werden, macht der Experte deutlich. Die Lage verlangsame lediglich die Offensive der Russen. "Die Kämpfe werden komplizierter."
Der ukrainische Militäranalyst Yuryi Butusov warnt bereits, dass sich die russischen Streitkräfte mit neuen Reserven auf eine neue Angriffswelle gegen Awdijiwka vorbereiten. Die Ukraine führt ihrerseits nach eigenen Angaben Gegenangriffe in der Gegend durch und konnte einige verlorene Stellungen zurückerobern. Doch auch dies wird in der Schlammzeit schwieriger. Russische Militärblogger räumten zudem ein, dass die ukrainischen Streitkräfte die Front aus der Luft kontrollierten. Sie führten dies auf fehlende Mittel der elektronischen Kriegsführung zurück, beispielsweise Störsender gegen ukrainische Drohnen. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben zunächst nicht.
Etwa zwei Kilometer sind die russischen Truppen seit Beginn ihrer Offensive auf Awdijiwka vorgerückt, um die Stadt einzukreisen und dann einzunehmen. Zuletzt habe es täglich bis zu 20 Angriffe gegeben, so der ukrainische Militärthinktank Centre for Defence Strategies (CDS). Er beobachtet, dass die russischen Streitkräfte Personal und Kriegsgerät für einen dritten massiven Angriff auf Awdijiwka bündeln. "Es wird erwartet, dass sie ihre Offensivoperationen nördlich von Awdijiwka wieder aufnehmen, sobald der Boden nach den tagelangen schweren Regenfällen abgetrocknet ist", schreiben sie in ihrem täglichen Lagebericht. Der Einsatz von Panzern und anderem schweren Kriegsgerät ist bei den aufgeweichten Böden vielerorts kaum möglich. So bleiben nur die wenigen befestigten Straßen, die aus der Luft aber ein leichtes Ziel darstellen.
Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die schweren Artillerieangriffe der Russen auf Awdijiwka weitergehen werden. "Der Einsatz der Artillerie ist nicht vom Wetter abhängig", sagt Experte Rácz. Anders sieht es bei den Drohnen aus, die das Artilleriefeuer lenken. "Bei schlechtem Wetter ist es schwieriger, die Drohnen zu fliegen, und bei starkem Wind sind die Batterien schnell leer." Die russische Artillerie werde aber auch bei schlechtem Wetter weiter feuern, ist er sich sicher.
Die Schlammperiode verlangsamt also den russischen Vormarsch, nicht aber den Beschuss. Wie lange dieser kleine Vorteil für die Ukraine anhält, ist ungewiss. Hinzu kommt, dass die Rasputiza auch ein Risiko für das ukrainische Militär darstellt: Dann nämlich, wenn die Russen den Druck erhöhen und die ukrainischen Soldaten Awdijiwka aufgeben müssen, erklärt Rácz. "Wenn sie die Stadt räumen müssen, ist das in der Schlammzeit nicht so einfach." Schließlich müssen die Soldaten einen Weg aus der Stadt finden, und ihr schweres Gerät könnte genauso im Schlamm stecken bleiben wie das der Russen.