
Das UN‑Kinderhilfswerk Unicef blickt besorgt auf die Lage der Schutzbedürftigsten in der Ukraine. Seit mehr als 600 Tagen und Nächten lebten Kinder und ihre Familie nun schon in einem permanenten Ausnahmezustand, sagt Unicef-Sprecherin Christine Kahmann. "Besonders im Osten und im Süden des Landes ist die Situation dramatisch", sagt sie nach ihrer Reise durch die Ukraine. "Die Familien versuchen, sich irgendwie auf den Winter vorzubereiten. Die Sorgen vor dem Winter sind groß."
Mit einem Unicef-Team hatte Kahmann unter anderem die Stadt Balaklija im Osten des Landes besucht, die mehrere Monate unter russischer Besatzung stand. "Viele Familien wohnen in Behausungen, die nicht winterfest sind", berichtet sie. "Fenster sind beschädigt, es zieht durch die Türen und ist kalt, und die Menschen haben keine Mittel, um die Schäden zu reparieren." Die Sorge vor den Wintermonaten, wenn es wieder kälter wird, sei ebenso groß wie die vor neuen Angriffen.
Während es in einigen Regionen der Ukraine am Wochenende den ersten Schnee gab, laufen die Vorbereitungen für den Winter weiter auf Hochtouren. In vielen Gegenden verteilt Unicef Winterkleidung an Familien, insbesondere an Mütter mit mehreren Kindern oder Kindern mit Behinderung. Das Rote Kreuz spendete 37 Heizkessel in Containern für mehrere Dörfer in der Ukraine, um die Wärmeversorgung bei einem Angriff auf die Energieinfrastruktur weiterhin zu ermöglichen. Mehrere Krankenhäuser haben in den letzten Wochen neue Heizungsanlagen erhalten, die mit Holz betrieben werden. So sollen Ärzte bei Angriffen auf die Stromversorgung weiter Patienten behandeln können.
Nach mehr als anderthalb Jahren Krieg stellen sich viele auf ein Anhalten der Kämpfe ein. In der Stadt Charkiw wurde in einem U‑Bahnsystem eine ganze Schule eingerichtet, damit die Kinder trotz des Kriegs weiter lernen können. Die Behörden haben im U‑Bahnschacht Wände mit Fenstern hochgezogen, an der einen Seite fahren U‑Bahnen entlang, an der anderen findet Unterricht statt. "Das ist wohl eine der ungewöhnlichsten Schulen der Welt", sagt Kahmann. "Während unseres Besuchs gab es oben Bombenalarm, unten in der U‑Bahn-Schule Matheunterricht." Allein an diesem Tag lösten die Sicherheitsbehörden zehnmal Luftalarm in Charkiw aus. "Diese Orte geben ihnen die Möglichkeit, für einen Moment den Krieg zu vergessen und nach vorne zu schauen", so die Unicef-Mitarbeiterin. "Die Schule ermöglicht ihnen den Austausch mit Gleichaltrigen, das Zusammensein und stiftet ein Gemeinschaftsgefühl", fügt Kahmann hinzu. "Die Kinder sehnen sich nach Normalität."
Die Schule im U‑Bahnsystem hilft Kindern dabei, mögliche kriegsbedingte Lernverluste aufzuholen. Dies bestätigt auch Kyrylo Demchenko, ukrainischer Jugenddeligierter bei den Vereinten Nationen. "Die vielen Angriffe auf Schulen und Universitäten schränken das Lernen vieler junger Menschen in der Ukraine ein", sagt er. Zahlreiche Lernorte seien zerstört worden und die ukrainischen Lehrkräfte seien dadurch gezwungen, kreativ zu werden. Der Onlineunterricht werde seit der Corona-Pandemie fortgeführt, doch Orte wie die Schule im U‑Bahnsystem seien trotzdem sehr wichtig. Dort könnten die Schüler ihre Lehrer leichter fragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben.
Unicef schätzt, dass etwa 1,5 Millionen Kinder in der Ukraine unter psychischen Belastungsstörungen, Stress oder Depressionen leiden. "Die Kinder und Jugendliche sind unglaublich stark, aber in ihren Augen und Stimmen ist zu erkennen, wie sehr sie vom Krieg gezeichnet sind", sagt Kahmann. Je länger der Krieg dauere, desto mehr wirke sich dies auf die Psyche der Kinder aus. "Die Erfahrungen hinterlassen tiefe Spuren in den Seelen der Kinder, die sie womöglich ihr Leben lang prägen werden." Viele Kinder benötigen psychologische Hilfe, sagen Beobachterinnen und Beobachter und schätzen, dass eine ganze Generation durch die traumatischen Erfahrungen des Kriegs über Jahrzehnte leiden könnte.