Eine Klausel, im Original "Sunset Clause" genannt, sorgt dafür, dass mit wenigen Ausnahmen wie etwa für den Finanzsektor alle Gesetze aus EU-Zeiten automatisch zum Ende des Jahres auslaufen sollen. Auf die Frage, ob das Vorhaben ideologisch getrieben sei, zögert die Rechtsexpertin Joelle Grogan von der Denkfabrik UK in a Changing Europe keine Sekunde: "Fast ausschließlich", lautet ihr Urteil.
Auf den ersten Blick mag der in Großbritannien heimische Otter wenig mit der Regelarbeitszeit von Angestellten und der Qualität von Geflügel gemeinsam haben. Doch London macht es möglich, dass ihr Schutz von dem gleichen Vorhaben bedroht ist - dem sogenannten "Retained EU Law Bill", der seine erste Hürde im Unterhaus bereits genommen hat. Eine Datenbank der Regierung hat 2400 Gesetze identifiziert, die nach dem Brexit einfach aus dem EU-Recht in britisches Recht kopiert wurden. Medienberichte gehen davon aus, dass es noch Tausende mehr sein könnten. "Es ist wirklich erstaunlich, dass Gesetze auslaufen sollen, von denen wir gar nicht wissen, welche es sind", meint Juristin Grogan.
Während auch Nicht-Brexit-Anhänger gezielte Reformen der übernommenen Gesetze durchaus begrüßen, sorgt der eingeschlagene Kurs für Aufsehen. "Die einzige Sicherheit bei diesem Gesetz ist die Unsicherheit", betont Grogan. Die Liste der Akteure, die schriftlich Einwände geäußert haben, ist lang: Sie reicht von Umweltorganisationen über Kreative, Wirtschaftsverbände, Unternehmensberatungen bis hin zum Facebook-Konzern Meta. Was sie befürchten, hat es in sich: Chemikalien könnten unreguliert in Lebensmitteln oder Landwirtschaft landen, Musiker Probleme mit Urheberrechten bekommen, bedrohte heimische Arten wie Otter oder Delfine aussterben, Beschäftigte ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert sein oder die Sicherheit auf dem Bau, im Flugzeug, im Internet oder der Energieversorgung leiden - und das ist nur eine kleine Auswahl der möglichen Folgen.
Für die Tories geht es primär darum, die versprochenen "Brexit-Freiheiten" zu nutzen. Premier Rishi Sunak, der in einem Wahlkampf-Video reihenweise EU-Gesetzestexte in den Papierschredder beförderte, steht von Seiten der erzkonservativen Brexiteers seiner Partei enorm unter Druck. "Die Brexiteers sollten sich darum sorgen, dass das Gesetz, nachdem eine Wunderwaffe versprochen wurde, nur Fehlschüsse abfeuert", schreibt Politikexpertin Jill Rutter von der Denkfabrik Institute for Government in einem Gastbeitrag in der "Financial Times". Doch Sunak will an dem von seinen Vorgängern eingebrachten Gesetz festhalten und rief kürzlich zu einer "gemeinsamen Kraftanstrengung" auf. Um Chaos zu verhindern, müssten in allen Ministerien im Akkord EU-Gesetze geprüft und reformiert werden, was mit den verfügbaren Ressourcen als unmöglich gilt.
Selbst die britische Wirtschaft scheint das möglichst schnelle Ende der EU-Regelungen nicht herbeizusehnen: In einer Umfrage des Verbands British Chambers of Commerce gab etwa die Hälfte von rund 940 befragten Unternehmen an, die Deregulierung habe keine oder nur eine geringe Priorität für sie. "Unternehmen haben dieses Gesetz nicht gefordert", sagt dazu William Bain, der sich bei dem Verband um Handelspolitik kümmert. "Sie fordern kein Feuerwerk der Vorschriften nur um des Feuerwerks Willen." Zu große Abweichungen von EU-Regeln könne den Handel sogar noch weiter erschweren.
Diese Gefahr sieht auch Grogan: Würden allerlei Gesetze auslaufen, sei es wahrscheinlich, dass Großbritannien damit gegen den Brexit-Handelsvertrag mit der EU verstoße, da die Vorgaben für ebenbürtige Wettbewerbsbedingungen nicht mehr gegeben seien. Als nächstes muss das Gesetz im Oberhaus die nächste Hürde nehmen, wo deutlicher Widerstand erwartet wird. "Die Lords werden kritisch sein", ist sich Grogan sicher. Sollte das Gesetz am Ende abgeschwächt durchkommen, könnte das für Sunaks Regierung sogar eine gesichtswahrende Lösung bedeuten, meinen manche Experten.
Vorteile können dem "Feuerwerk" außerhalb der Tory-Kreise nur wenige abgewinnen. "Es ist nur geringfügig weniger dumm, als ein Gesetz zu verabschieden, dass vorsieht, dass Großbritannien bis Ende 2023 eine Kolonie auf dem Mars haben sollte", kommentiert die "Financial Times". "Und das hätte immerhin den Vorteil, ambitioniert zu sein und Gelder für die britische Raumfahrtindustrie bereitzustellen."
agenturen/pclmedia