Die Vorfreude auf jene Frau, die den einen als populistische Reizfigur und den anderen als politischer Popstar gilt, ist jedenfalls schon anderthalb Stunden vor dem eigentlichen Veranstaltungsstart in der Stadthalle greifbar. Schlangestehen am Einlass. Schieben an der Garderobe. Gedränge am Bücherstand, wo die Taschenbuchausgabe von Wagenknechts "Selbstgerechten" stapelweise angeboten wird. "Ich habe schon immer gesagt: Wenn Sahra eine Partei gründet, gehe ich auch wieder wählen. Heute will ich sie endlich live sehen", erklärt eine Besucherin, die sich Dana nennt, bevor sie sich in die Stuhlreihen schiebt.
Es ist der erste öffentliche Auftritt von Wagenknecht, seit sie vor knapp drei Wochen ihren Austritt bei der Linken offiziell vollzogen hat. Nun wissen alle, dass die 54-Jährige ernst macht und eine eigene Partei gründen will. Das war lange vermutet worden. Immerhin hatte die Politikerin über Monate damit kokettiert. Bis auf Weiteres trägt ein Verein ihren Namen, das neue Bündnis wird zusätzlich "Für Vernunft und Gerechtigkeit" apostrophiert.
Doch die Abspaltung ist nicht ihr Anlass, um nach Riesa zu kommen. Vor zweieinhalb Jahren ist besagtes Buch "Die Selbstgerechten" erschienen, das abermals ein Bestseller geworden war. Daraus liest sie knapp 40 Minuten. Manche haben darin schon damals eine Abrechnung mit der Linkspartei gesehen. Tatsächlich geht es an diesem Abend aber nicht um ihre nun ehemalige Partei, in die sie 1989 eingetreten war, sondern um das große Ganze, wenn man so will. Konkrete Lösungsansätze würden sich später in Partei- und Wahlprogrammen finden, betont sie immer wieder.
Im mintfarbenen Kostüm, die Beine hintereinander geschlagen, im Fokus eines Spots. Ein quadratischer Tisch, ein Stuhl, ein Mikrofon: Mehr braucht es nicht, um den Beifall immer wieder aufwallen zu lassen. Während der Lesung ist es meist so still im Saal, dass wohl das Aufschlagen einer Nadel auf dem Parkettboden vernehmbar wäre. Dem "linksliberalen Milieu" wirft sie unterdessen eine "Kriegsbesoffenheit" vor und erklärt, das eben jene moraline Kaste ihre Meinung zu einer Quasi-Religion erhoben habe.
"Die Menschen haben das Gefühl, dass an ihnen vorbeiregiert wird, dass sie belehrt werden und ihnen vorgeschrieben wird, wie sie leben sollen", sagt Wagenknecht und spricht von einem "arroganten Diskurs, einen privilegierten Lebensstil zum Standard machen" zu wollen. Unter Jubel und erneutem Beifall fügt sie noch hinzu, dass sie auch deshalb gern in den Osten komme, weil die Grünen hier so schwach seien. "Warum wählen die Leute denn rechte Parteien?", fragt Wagenknecht in den Saal. Nach einer rhetorischen Pause gibt sie die Antwort selbst: "Ganz einfach: Weil sie wütend sind." Zur Bestätigung erntet sie ein hundertfaches Klatschen. Zugegeben, es ist hier einfach für sie.
Es gibt in Deutschland derzeit wohl kaum eine Politikerin oder einen Politiker – oder vielleicht sogar niemanden aus einer Partei –, der 18 Euro Eintritt verlangen und dennoch ganze Säle füllen kann. Das war zuletzt im September in Jena, in Wagenknechts Thüringer Heimat, so, und dürfte demnächst auch in Zeitz (Sachsen-Anhalt) und Limbach-Oberfrohna (Landkreis Zwickau) ähnlich sein. Nach Riesa kommen am Donnerstagabend fast 700 Besucherinnen und Besucher, nur ein paar Dutzend Stühle bleiben frei, an der Abendkasse sind lediglich Restkarten erhältlich.
In der Stadthalle ist das zahlungsbereite Publikum, lapidar gesagt, sehr bunt gemischt. Im Alter zwischen 18 und den hohen 80ern. Auffallend viele Paare im mittleren Alter wollen "die Sahra" sehen und vor allem hören. Aber auch Freundinnen treffen sich zu einem abendlichen Ausflug, mit einem Glas Weiß- oder Rotwein in der Hand. "Die Linke war überhaupt nicht meine Partei. Jetzt möchte ich mir anhören, was Sahra Wagenknecht zu sagen hat. Aus den Talkshows kenne ich sie ja bereits und finde sie gut", nennt eine Mittvierzigerin, die angibt, Heidi zu heißen, den Grund ihres Besuchs.
Wagenknecht scheint ein Phänomen zu sein. Manche werfen ihr vor, von den Medien gemacht worden zu sein, nicht zuletzt aufgrund ihrer Präsenz in der Öffentlichkeit. Doch eine solche Kritik würde der Frau, die gerade dabei ist, die politische Landschaft der Bundesrepublik durchzumischen, nicht gerecht. In ihren gut 30 Politikjahren hat sie sich erstaunlich gewandelt – und ist gleichzeitig, rein äußerlich, doch immer die Gleiche geblieben. Eine Erscheinung, die an die Revolutionärin Rosa Luxemburg ("Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden") erinnert. Vielleicht ist es auch dieser unverrückbar wirkende Habitus, der sie in den vergangenen Jahren immer anziehender werden ließ.
Dabei galt Wagenknecht lange Zeit und nicht wenigen als Persona non grata, als Unperson. Damals, in ihren fast zwei Jahrzehnten bei der Kommunistischen Plattform ihrer Partei, deren Sprecherin sie auch war. Das Intellektuelle, die wohlüberlegten Formulierungen, hat sich die abtrünnige Linke bewahrt. Auch in Riesa spricht Wagenknecht an diesem Abend in temperierten Sätzen, hebt niemals ihre Stimme, redet in druck- oder sendereifen Formaten. Allerdings bekennt sie sich auch zu einer Abkehr, die einen Wandel ihres Weltbildes offenbart: "Ich möchte eine Wirtschaft, die über Wettbewerb läuft." Gleichzeitig betont die 54-Jährige aber ebenso, dass die Renten endlich gerecht und der Mindestlohn stärker angehoben werden müssten, dass die Erhöhung des Bürgergeldes gerechtfertigt sei.
Es sind wenige zentrale Botschaften, die für ihr neues politisches Agieren stehen und sich einnisten sollen. Eine andere Aussage, diesmal zur Migration, lautet: "Wir können diese Zahlen (an Flüchtlingen) nicht mehr stemmen. Unser Land kann nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen. Das zu sagen, ist doch nicht rechts." Wieder brandet Applaus durch den Riesaer Saal. Es sind Worte, in denen sich viele der Anwesenden wiederfinden. Zwar formulieren andere, etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), ähnlich. Doch irgendwie schafft es diese Frau, die so unnahbar anmutet, die Sorgen aufzunehmen. Es kommt einer Selbstvergewisserung gleich, die anscheinend beiden Seiten gut tut.
Dabei weist die Bundestagsabgeordnete in der Fragerunde, die sich der Lesung anschließt, auch jedwede Berührungsängste von sich. Sie wünsche sich für ihre Partei, erklärt Wagenknecht, abermals unter lautem Beifall, "dass wir diejenigen Menschen, die die AfD aus Protest, aus Verärgerung wählen, überzeugen können". Und, wer die AfD schwächen wolle, "muss vor allem eine gute Politik, eine Politik für die Menschen, machen".
Der Resonanzboden für Wagenknecht scheint nicht unerheblich. Obwohl noch vieles unklar ist, wofür ihre Partei genau stehen wird, erreicht sie in Umfragen bereits hohe Werte. So konnten sich vor Kurzem laut einer LVZ-Umfrage bereits 29 Prozent der Teilnehmenden grundsätzlich vorstellen, bei der sächsischen Landtagswahl am 1. September 2024 für eine solche Neugründung zu stimmen. Darüber hinaus haben sich 26 Prozent noch keine Meinung gebildet. Dagegen schließen lediglich 41 Prozent der Befragten kategorisch aus, für Wagenknecht zu votieren.
Damit liegt das Wähler-Potenzial deutlich über dem von Linken, SPD, Grünen und FDP. In Sachsen wäre der mögliche Zuspruch aktuell nur für CDU und AfD größer. Die größten Verluste könnten demnach auf die Linke zukommen: 56 Prozent der bisherigen Parteisympathisanten zeigen sich offen, ihr Kreuz bei Wagenknecht zu machen. Doch auch andere könnten demnach Einbußen verzeichnen: 42 Prozent der befragten AfD-Sympathisanten und auch 34 Prozent der bisherigen SPD-Wähler liebäugeln mit Wagenknecht.
Ihr Problem ist allerdings: Wagenknecht ist das prominente Gesicht, das Zugpferd – doch sie braucht auch viele an ihrer Seite. Aktuell deutet sich zumindest in Sachsen an, dass es schwierig ist, Aushängeschilder für die neue Partei zu finden. In der Führung des neuen Bündnisses ist der Osten bislang nicht vertreten. Die von ihr 2018 ins Leben gerufene Bewegung "Aufstehen", die das linke Lager vereinen sollte, hatte bereits ähnliche Probleme – das Projekt war letztlich gescheitert.
Damit der Aufstand diesmal klappt, wirbt Wagenknecht in vollen Sälen, macht sogenannte Graswurzelarbeit. In den vergangenen Wochen hätten sich "ganz viele Leute, die im normalen Leben stehen" bei ihr gemeldet, von der Alleinerziehenden bis zum Handwerksmeister. Notwendig sei jetzt, Strukturen für die Partei aufzubauen – und dafür brauche es leider auch Geld, sagt Wagenknecht, um weitere Unterstützung werbend. "Es ist rührend, dass heute schon ganz viele kleine Spenden dabei sind, auch 5 oder 10 Euro helfen. Denn wir werden keine Partei sein, die von den großen Konzernen dicke Schecks ausgereicht bekommt. Das wollen wir auch gar nicht."
Post- und Büroanschrift Malta - die klevere Alternative
Nach anderthalb Stunden endet der offizielle Teil mit rhythmischem Klatschen. Etliche der Zuhörerinnen und Zuhörer applaudieren im Stehen. Für die eingangs erwähnte Dana, 41 und medizinische Fachangestellte, ist Wagenknechts Spendenwerben umgehend ein Ansporn: "Ich habe mir hier extra ein Buch gekauft, um Sahra zu helfen." Dann reiht sie sich in eine viele Meter lange Menschenschlange ein, um ihr Exemplar von der Autorin unterschreiben zu lassen.
Andere Besucherinnen und Besucher haben bereits einige der Bestseller unter ihren Armen klemmen. So auch Grit Haberecht. "Ich verfolge Sahra schon sehr lange. Jetzt ist die Zeit für den Wandel gekommen. Dabei würde ich gern mitmachen", erklärt die ehemalige Betriebsrätin, 58, aus Riesa. Und Wieland Friedrich (64), der gerade von einem Selfie-Shooting mit Wagenknecht am Signierstand kommt, versichert: "Man muss sicherlich das Programm abwarten. Aber das, was bisher zu hören ist, klingt sehr gut und sehr klug." Es scheint, dass auf jemanden wie Wagenknecht gewartet worden ist. Zumindest von den rund 700 Menschen, die ihr in Riesa einen Abend zum Wohlfühlen bereitet haben.