Das jedenfalls ist seit fast zwei Jahren seine Welt. Die Welt der Schützengräben, Granaten, der Angst. Und jetzt ist er hier, in Deutschland, in derselben Tarnfleckuniform, auf der Brust rechts ein Aufnäher mit seinem Kampfnamen: "Vater", weil er der Älteste in seiner Einheit ist. Links, falls es ihn doch einmal trifft, ein Patch mit seiner Blutgruppe, Null Rhesus positiv. Das ideale Spenderblut. "Nur ich selbst", sagt er lächelnd, "sollte möglichst heil bleiben."
Da trifft es sich gut, dass sein Gegner hier nicht schießt. Nur macht ihn das eher noch gefährlicher. Ihor Zhaloba, 59 Jahre alt, eigentlich Professor für Geschichte an der Universität von Kiew, seit fast zwei Jahren aber Soldat in der ukrainischen Armee, ist in Deutschland, um den wohl tückischsten Feind zu bekämpfen, der die Ukraine derzeit bedroht: die wachsende Müdigkeit in der westlichen Welt, die Ukraine weiter zu unterstützen, das Zaudern und Zögern, wenn es um weitere Waffen geht.
Ihor Zhaloba ist ein freundlicher Mann, er will nicht undankbar erscheinen, er sei froh über die 70 Prozent der Deutschen, die Ukraine noch immer unterstützen wollen. Aber das mit der Müdigkeit versteht er trotzdem nicht so recht. "Wenn man sagt: Wir sind müde von diesem Krieg, dann muss man eigentlich sagen: Ihr habt doch gar nicht gekämpft, oder?" Und eine Müdigkeit, die allein daher rührt, dass man etwas zu oft im Fernsehen gesehen hat, die kommt ihm eigenartig vor.
Ihor Zhaloba war in den letzten eineinhalb Jahren auch oft müde. Vom schlechten Schlaf auf dem Boden seines Schützengrabens. "Zuletzt haben mir meine Kameraden ein Bett herangeschafft", sagt er, als Einziger seiner Einheit durfte er es nutzen, eine Würdigung seines Alters. Aber viel besser machte es das auch nicht. "Das Krachen der Granaten spürt man dort genauso."
Tatsächlich steckt die Ukraine in diesem Winter in der vielleicht schwierigsten Phase seit Kriegsbeginn. Die Offensive im Sommer verlief enttäuschend. Ohne weitere westliche Hilfe wird sie den russischen Angriffen nicht lange standhalten können. Vor wenigen Tagen war Präsident Wolodymyr Selenskyj deshalb in Washington. Doch der Besuch verlief für ihn enttäuschend. Vergeblich bat er um die baldige Lieferung weiterer Waffen und Munition. Ein gewaltiges Hilfspaket von 61 Milliarden Dollar steckt weiter fest, blockiert vom Streit zwischen Demokraten und Republikanern im Kongress. Und auch in anderen westlichen Staaten bröckelt die Entschlossenheit. "Die Dynamik der Unterstützung für die Ukraine hat nachgelassen", konstatiert das Kieler Institut für Weltwirtschaft in seiner jüngsten Analyse.
Und so wie der Präsident ist auch er im Westen unterwegs, Ihor Zhaloba. Zehn Tage Sonderurlaub von der Front, die einzige Auflage: Er muss Uniform tragen, auch hier. Ein Mann auf schwieriger Mission, für Vorträge, Interviews, Gespräche mit Politikern im Westen. Aber wer könnte den Willen zur Eigenständigkeit besser verkörpern als er: der Professor, der zum Kämpfer wurde.
"Nein, wir haben nicht alles geschafft, was wir uns erhofft haben", sagt er. "Aber ich bin stolz auf das, was wir geschafft haben. Niemand hatte an uns geglaubt." Und es sah ja auch wirklich nicht danach aus, als könne das Land der russische Übermacht lange widerstehen. Oder als könne er dazu einen zählbaren Beitrag leisten.
Als Russland im Februar 2022 seine Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lässt, ist Ihor Zhaloba 58 Jahre alt. Seit 30 Jahren ist er Hochschullehrer an der Universität, Historiker, seinen Wehrdienst hat er noch zu Sowjetzeiten absolviert. "Das letzte Mal, dass ich eine Kanone gesehen hatte, war 1987."
Er könnte sich nun zurückhalten, er hätte gute Gründe. Aber das tut er nicht. Mit seiner erwachsenen Tochter absolviert er ein Wochenendseminar zur Kriegsvorbereitung. "Die ausländischen Journalisten haben uns belächelt, wie wir mit unseren Holzgewehren trainierten. Aber das war mir egal." Illusionen macht er sich zu keiner Zeit, eines seiner Spezialgebiete ist die Geschichte internationaler Beziehungen, er ahnt, was kommt. Als er am 23. Februar 2022, dem Tag vor dem Angriff, morgens um 10 Uhr seine letzte Vorlesung hält, sagt er: "Morgen oder übermorgen wird es Krieg geben." Selbst da glauben ihm die wenigsten.
Aber als es geschieht, ist Ihor Zhaloba vorbereitet. Das Auto ist vollgetankt, Pass und Papiere sind bereitgelegt, die Sachen gepackt. Am Morgen des 25. Februar fährt er los, zu einem Sammelpunkt der Armee, und meldet sich freiwillig. "Da war es", sagt er, "schon unerträglich geworden, zu Hause zu sein." Er erhält ein Gewehr, zurück lässt er die Namen und Telefonnummern derjenigen, die anzurufen sind, falls ihm etwas passiert. Dann geht es an die Front. Um sich den Russen entgegenzustellen, die in dieser Zeit auf Kiew vorrücken.
Ob er nicht einmal gezögert hat? Nein, versichert er. "Wissen Sie, es waren die entscheidenden Tage damals." Drei Tage gaben ihnen die meisten Experten damals. Drei Tage, bis Russland die Ukraine überrannt hätte. Es kam dann anders. "Wenn wir damals verloren hätten, über was würden wir dann heute reden? Über welchen Beruf? Welchen Hörsaal in Kiew? Welche Studenten?" Ihor Zhaloba wollte nicht fliehen. "Dann müsste ich hier sitzen und jammern und bitten um Brot, das möchte ich nicht." Sie seien die Bürger eines großen Landes, sagt er. "Und wenn wir diesen Geist haben, dann können wir auch alles schaffen." Davon scheint er überzeugt, noch immer. Ihor Zhaloba ist, soweit man das von außen beurteilen kann, kein Mann des Zweifels.
Aber wenn ihm das Bitten so zuwider ist, dann kann man zumindest ahnen, wie schwer ihm diese Reise in den Westen fällt. Weil es hier natürlich doch darum geht zu bitten. Nicht um Brot, aber um Unterstützung, Geld, Waffen. Acht Tage hat er für seine Mission, in Deutschland. Er spricht Deutsch, ist Vorsitzender der ukrainisch-österreichischen Historikerkommission, Präsident der Paneuropa Union in der Ukraine, einer konservativen proeuropäischen Bewegung. Freunde hier haben ihm Termine verschafft. Er hält Vorträge in Süddeutschland, spricht mit Journalisten in Wien, trifft in Hannover den Chef der niedersächsischen CDU, Sebastian Lechner, 43 Jahre alt, eigentlich Volkswirt.
Ein Treffen in dessen Büro im Landtag. Es ist Sitzungswoche, nachher geht es um Rettungsdienstgesetz, Regierungserklärung, die Afrikanische Schweinepest im Emsland. Lechner hat eine halbe Stunde, am Mittag. Sie sitzen sich auf der Couch gegenüber, Lechner in dunkelblauem Anzug, Zhaloba in Tarnfleck. Zhaloba ist 16 Jahre älter, aber er ist nun doch aufgeregt.
"Ich bin hier, um zu sagen, dass es nicht nur unser Krieg ist", sagt Zhaloba. "Das ist unser gemeinsamer Krieg – und es ist in eurem Interesse, uns zu unterstützen." Es sei ja verständlich, dass Bürger jetzt dem Krieg in Israel mehr Beachtung schenkten als dem in der Ukraine. "Aber Politiker dürfen so nicht denken. Denn was bekommt der Westen, wenn die Ukraine den Krieg verliert? Putin steht schon vor der Tür."
Lechner antwortet, in dem er betont, wie sehr seine Partei doch schon auf der Seite der Ukrainer steht. Dass sie als einzige den ukrainischen Botschafter auf dem Sommerfest der Fraktion gehabt hätten, auch wenn ihm der Name gerade nicht einfällt, Dass er für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern sei, dass ihn Gegner der Ukraine-Hilfen wie Viktor Orban und die Republikaner sehr irritierten und die Haltung der CDU da aber ganz klar sei. Ihor Zhaloba, das wusste er wohl auch schon vorher, ist hier auf befreundetem Terrain. Der Feind, so viel ist klar, steht irgendwo anders.
Er habe viel gelesen, sagt Lechner, über den Mangel an der Front. "Aber wie ist die Lage wirklich?" Und so erzählt Ihor Zhaloba davon, dass die Russen viel gelernt hätten, dass sie Unmengen von Minen ausgelegt hätten, "sehr geschickt machen sie das". Von den Artilleriegranaten erzählt er, die auf sie niedergingen, "wir liegen Tag und Nacht im Feuer, immer in der Gefahr". Nur für ein paar Meter nach vorn und hinten dürften sie ihren Graben verlassen, alles andere sei zu gefährlich.
Vom Tod erzählt er, der einen seiner 23 Kameraden getroffen habe, einen jungen Vater, die Frau zu Hause gerade schwanger. Und davon, wie er einmal eine Einheit an einem anderen Posten abgesetzt hatte und dann neben seinem Auto die Granaten einschlugen, die erste, die zweite, die dritte, immer näher kamen sie ihm. "Da", sagt er, "hatte ich zum ersten Mal wirklich Todesangst."
Im Sommer gehörte er zu einer Sondereinheit, die mit Drohnen die russischen Stellungen auskundschaftete. Bei Robotyne gelang ihnen einer der wenigen Vorstöße in diesem Jahr, nach heftigen Kämpfen. Ob er wirklich daran glaubt, dass ein Sieg noch möglich ist, nach diesem Sommer des Stillstands? "Wir können es schaffen", sagt Zhaloba – aber dazu bräuchten sie mehr Waffen, mehr Unterstützung, mehr Hilfe. Ob es eine Lösung sein könnte, die besetzten Gebiete Russland zuzugestehen, aber dafür die Rest-Ukraine in die Nato aufzunehmen? Nein, sagt Zhaloba. "Putin behauptet ja jetzt schon, dass er in der Ukraine gegen die Nato kämpft. Das schreckt ihn nicht ab." Von einem wie auch immer gearteten Frieden, so viel ist sicher, sieht Ihor Zhaloba sein Land sehr weit entfernt.
Post- und Büroanschrift Malta - die klevere Alternative
Was sie denn ganz praktisch von ihm jetzt bräuchten, fragt CDU-Mann Lechner den Mann im Tarnfleck neben ihm. Geld, sagt Zhaloba, damit sie für ihre Einheit mehr Drohnen kaufen könnten. Dass sie im Kontakt blieben. Und dass er vor seinen Studenten nicht als Betrüger dasteht. "30 Jahre habe ich meinen Studenten erzählt, dass der Westen unser Vorbild ist. Ich will nicht, dass ich als Lügner dastehe." Das wolle er auf keinen Fall, versichert Lechner. Sie sollten unbedingt im Kontakt bleiben, das sei ihm wichtig. Vom Geld sagt er nichts. Als er rausgeht, ist Ihor Zhaloba dennoch zufrieden. "Wenn er sein Wort hält", sagt er, "dann wird uns das helfen."
Ihor Zhaloba wird dann wieder zurückfahren, in die Ukraine, zu seiner Einheit. Wo er Weihnachten sein wird: Er weiß es nicht. Klar ist nur, dass sein Dienst in der Armee am 21. Februar endet. Dann wird er 60. Wenn er dort, an der Front, den Bomben weiter entkommt.