Ebenfalls am Samstag gab das Außenministerium in Ankara bekannt, man habe den türkischen Botschafter aus Israel abberufen. Israel hatte sein diplomatisches Personal aus der Türkei bereits vor zwei Wochen zurückgezogen, nachdem es in vielen türkischen Städten zu militanten antiisraelischen Protesten gekommen war. Damit findet die türkisch-israelische Wiederannäherung ein abruptes Ende. Erst vor sechs Wochen hatten sich Erdogan und Netanjahu nach einer mehr als zehnjährigen Eiszeit in den Beziehungen beider Länder in New York bei der UN-Vollversammlung getroffen. Man sprach über gemeinsame Energie- und Technologieprojekte. Erdogan twitterte sogar Bilder von dem Treffen und kündigte an, er werde bald nach Jerusalem kommen.
Und nun der Bruch. Er war mit dem Wiederaufbrechen des Gaza-Konflikts absehbar. Erdogan ist einer der wichtigsten Sponsoren der Terrorbewegung Hamas. Er ließ die führenden Funktionäre der Gruppe in den vergangenen Jahren einbürgern. Sie reisen mit türkischen Pässen. Die Hamas sei eine Befreiungsbewegung, die für ihr Land und die Freiheit ihres Volkes kämpfe, Netanjahu hingegen sei ein "Terrorist", erklärte Erdogan vor zehn Tagen bei einer Kundgebung in Istanbul.
Der Hauptschuldige hinter den "Massakern", die Israel in Gaza begehe, sei "der Westen", so Erdogan unter dem Jubel seiner Anhänger. Zum Angriff auf das Musikfestival in der Negev-Wüste, bei dem Hamas-Terroristen Hunderte Israelis ermordet, vergewaltigt und verschleppt hatten, schweigt Erdogan beharrlich. Mit seiner einseitigen Parteinahme isoliert der türkische Präsident sein Land im Westen. Die Lieferung amerikanischer F-16-Kampfflugzeuge rückt weiter in die Ferne. 45 Abgeordnete des US-Kongresses, der die Waffenlieferung genehmigen muss, fordern in einem gemeinsamen Brief von Außenminister Blinken, die Türkei wegen ihrer Unterstützung für die Hamas zu rügen. Die neuen Spannungen könnten auch die immer noch ausstehende Zustimmung der Türkei zum Nato-Beitritt Schwedens weiter verzögern.
Wenn Erdogan die Hamas als Befreiungsbewegung verherrlicht, spricht er als Islamist aus tiefster Überzeugung. Er hat aber auch die Innenpolitik im Blick. Im März finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Sie gelten als wichtiges politisches Stimmungsbarometer. Bei den Wahlen von 2018 hatte Erdogans Regierungspartei AKP Großstädte wie Ankara, Istanbul, Antalya, Adana und Bolu an die oppositionelle CHP verloren. Im März will er vor allem die Metropolen Ankara und Istanbul zurückerobern.
Besondere Bedeutung bekommt die Kommunalwahl, seit die Oppositionspartei CHP jetzt einen Generationswechsel in der Parteiführung einleitete. Ein Parteitag wählte am Sonntag den 49-jährigen Özgür Özel zum neuen Vorsitzenden. Er setzte sich in der Stichwahl gegen den 74-jährigen Kemal Kilicdaroglu durch, der die CHP seit 13 Jahren führte.
Israelfeindliche und antisemitische Ressentiments sind gerade in Erdogans islamistischer Kernwählerschaft weit verbreitet. Auch deshalb spielt der Präsident jetzt im Hinblick auf die Kommunalwahlen die Hamas-Karte. Damit lenkt er zugleich von der immer schwierigeren Wirtschaftslage ab. Die Inflationsrate nähert sich wieder der 70-Prozent-Marke. Die türkische Zentralbank erwartet bis zum kommenden Frühjahr einen weiteren Anstieg auf 75 Prozent.
Erdogan riskiert mit seinen antiisraelischen Tiraden und der Verherrlichung der Hamas allerdings eine weitere politische Isolierung seines Landes im Westen und neue Verunsicherung an den Finanzmärkten, auf deren Vertrauen die Türkei angewiesen ist. Der türkische Staatschef verspielt auch seine Chance auf eine Rolle als Vermittler in dem Konflikt. Dazu ist die Türkei inzwischen viel zu sehr Partei. Wachsende Kopfschmerzen bereitet Erdogans Schulterschluss mit der Hamas jetzt auch vielen Regierungspolitikern in Berlin. Dort will der türkische Präsident in zwei Wochen zu einem offiziellen Besuch anreisen.