
In den letzten Wochen hat Russland die Luftangriffe nach und nach intensiviert. Mit den Billigdrohnen versucht die Armee, Lücken und Schwachstellen in der ukrainischen Flugabwehr ausfindig zu machen. Solche "Tests" der ukrainischen Luftverteidigung sehen Beobachter als Vorbereitung auf schwere Angriffe gegen die Energieversorgung mit den deutlich teureren Marschflugkörpern und ballistischen Raketen.
Russland verfolgt mit den Drohnenangriffen eine Doppelstrategie. "Erstens geht es darum, die militärische Versorgung und Logistik der Ukraine zu zerstören", sagt Marcel Berni, der an der Militärakademie der ETH Zürich Schweizer Offiziere ausbildet. "Das ist ein Unterschied zum letzten Winter, wo vor allem die zivile Infrastruktur angegriffen wurde", erklärt der Militärstratege. Jetzt gehe es Russland in erster Linie darum, die ukrainische Luftabwehr mit billigen Drohnen an wichtigen Logistikpunkten zu übersättigen und das westliche Gerät schon vor der Ankunft an der Front auszuschalten. "Zweitens soll gleichwohl die ukrainische Zivilbevölkerung mit weitreichenden Angriffen zermürbt werden", so Berni. Denn im Unterschied zum letzten Winter scheine es dieses Jahr kalt und eisig zu werden.
Zu den Zielen der jüngsten Drohnenangriffe zählen ukrainischen Beamten zufolge zivile Wohnhäuser und Infrastruktur. Der Winter sei für viele Menschen in der Ukraine auch ohne bewaffneten Konflikt eine harte Zeit, sagt Christof Johnen, der die internationale Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) leitet. Er verweist auf den jüngsten Schneesturm, der Tote und Verletzte zur Folge hatte und Hunderte Dörfer von der Stromversorgung abschnitt. "Wenn die Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur weiter zunehmen, wird das ein noch härterer Winter für die Ukrainerinnen und Ukrainer", sagt Johnen. Besonders schlimm sei die Lage im Osten und Süden des Landes, wo viele Menschen nur wenige Kilometer von der Front entfernt lebten.
Die Luftverteidigung der Ukraine hat sich dank westlicher Unterstützung jedoch als weitgehend robust erwiesen. Der Großteil der Drohnen könne unschädlich gemacht werden, bevor diese ihr Ziel erreichen. Die Erfolgsquote liegt bei etwa 70 Prozent. "Diesen Winter haben wir die Chance, den Kampf um die Energie zu gewinnen", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gegenüber den G7-Regierungschefs. "Jetzt verstärken wir unsere Luftverteidigung, auch mit Ihrer Unterstützung." Erst Ende Oktober hatte Deutschland ein drittes Luftverteidigungssystem vom Typ IRIS-T geliefert. Zuvor hatte die Ukraine bereits Patriot-Flugabwehrsysteme und rund 50 Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard aus Deutschland erhalten.
Russland versuche nun, seine Angriffsdrohnen zu verbessern, heißt es in einer Einschätzung des britischen Geheimdienstes. Es sei eine abgeschossene Drohne gefunden worden, die mit einer ukrainischen SIM-Karte und einem 4G-Modem ausgestattet gewesen sei. Russland versucht offenbar, die Abhängigkeit von Satellitennavigation zu verringern, so London, und Drohnen mithilfe von Mobilfunk zu steuern. Eine weitere "improvisierte Modifikation" habe man bei einer anderen in Russland hergestellten Drohne bemerkt. Sie war mit einer schwarzen Lackierung versehen, sodass sie nachts schwieriger zu erkennen ist.
Kremlchef Wladimir Putin hat in dieser Woche den iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi in Moskau empfangen, um insbesondere iranische Kurz- und Mittelstreckenraketen zu erhalten. Zudem hat Moskau bei der Weiterentwicklung der First-Person-View- und Lancet-Drohnen Fortschritte gemacht, beobachtet Berni. "Dieser technologische Wettlauf ist ein Katz-und-Maus-Spiel."
Anders als im vergangenen Jahr haben sich Behörden und Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz auf Angriffe gegen die Energieversorgung vorbereitet. So gibt es zum Beispiel mobile Heizpunkte, wie Johnen erklärt. "Das sind beheizte Zelte, wo Menschen sich aufwärmen können, etwas zu essen und zu trinken bekommen und auch ihre Mobiltelefone aufladen können." Krankenhäuser und Polikliniken habe man mit Stromgeneratoren und Treibstoff ausgestattet, damit die Stromversorgung auch bei Stromausfällen gesichert ist. In Saporischschja und Dnipro hilft das Rote Kreuz beim Bau betonverstärkter Schutzräume. "Da die Menschen dort zum Teil mehrere Tage ausharren müssen, gibt es dort auch Strom, Wasser und Lebensmittel", berichtet Johnen.
Russland startet die Drohnen aus den besetzten Teilen der Ost- und Südukraine, von der Krim sowie aus russischen grenznahen Gebieten. Dies bringe die Ukraine in eine "Zwickmühle", sagt Berni. "Denn Kiew kann die Abschussorte nur begrenzt angreifen, da ihnen die Langstreckenraketen und -marschflugkörper fehlen." Daher bittet Kiew Deutschland auch seit vielen Monaten um Taurus-Marschflugkörper.
Die Luftangriffe richten sich immer häufiger auch gegen Ziele im Westen der Ukraine. Dorthin sind Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aus anderen Teilen des Landes geflohen, wo der Krieg besonders stark wütet. Nun verschärfen Russlands Angriffe auch in westlichen Regionen die humanitäre Lage. "Viele der Millionen Binnenvertriebenen leben in der Ukraine unter schwierigen Bedingungen, haben keinen Arbeitsplatz mehr und müssen immer wieder eine neue Bleibe finden", sagt Johnen. Das Ukrainische Rote Kreuz unterstützt 270.000 Binnenvertriebene und die Familien, die Vertriebene aufgenommen haben, mit Bargeldhilfen. Die gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise verschärfen die Situation für die Menschen zusätzlich.
"Die humanitäre Lage in der Ukraine ist in den letzten Monaten etwas aus dem Blickfeld geraten", kritisiert Johnen. Vor dem letzten Winter habe sich der Westen mehr Sorgen um die Energieversorgung der Ukraine gemacht. "Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass humanitäre Nothilfe noch lange erforderlich sein wird", sagt der DRK-Experte.