Nach der illegalen Annexion der Krim hatte Russland auch mehrere Bohrinseln eingenommen, die Boiko-Türme kontrollierten die Russen seit 2015. Das Verteidigungsministerium in Moskau äußerte sich zunächst nicht zu der Entwicklung. Seit Monaten tobt im Schwarzen Meer ein Krieg mit Kriegsschiffen, kleinen Booten sowie See- und Landdrohnen um die Öl- und Gasplattformen. Erst vor drei Wochen hatten Russland und die Ukraine heftige Gefechte bei der Schlangeninsel gemeldet, die im Gebiet der Boiko-Bohrinsel liegt.
"Die Bohrinseln sind sowohl wirtschaftlich als auch militärisch von großer Bedeutung in diesem Krieg", sagt die Schwarzmeerexpertin Yevgeniya Gaber aus Odessa vom Atlantic Council. "Russland hat die Zeit seit 2015 genutzt, um Öl und Gas aus der Ukraine zu stehlen, aber auch, um diese Bohrinseln für militärische Zwecke zu nutzen", erklärt sie im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die meisten der ukrainischen Ölplattformen seien derzeit von Russland besetzt.
Der wirtschaftliche Schaden ist kaum zu beziffern. Beobachter hatten immer wieder darauf hingewiesen, dass Russland die eroberten Gebiete ausbeutet: Tonnenweise Getreide wurde aus Silos gestohlen, Kohle aus dem Donbass – und Öl und Gas von den Bohrinseln im Schwarzen Meer. Doch mit dem Großangriff im Februar 2022 wurden die Offshore-Plattformen für Russland vor allem wegen ihres militärischen Nutzens wichtig.
Wie Fotos der Bohrinseln zeigen, hat Russland die Plattformen mit Wasserschall- und anderen Radarsystemen ausgestattet. Durch diese Kontrollposten auf See haben die Russen einen genauen Überblick darüber, was sich in diesem Teil des Schwarzen Meeres über und unter Wasser abspielt. Ein solches Radar kann bis zu 200 Schiffe in bis zu 55 Seemeilen Entfernung tracken, berichtete das Fachmagazin "Black Sea Security" 2018. Nähert sich ein Schiff – und sei es auch nur ein kleines Schlauchboot –, löst das System automatisch Alarm aus.
Die Radarstationen sollen auch für Raketenstarts auf der Krim verwendet worden sein, vor allem gegen Ziele an der ukrainischen Küste. "Russland hat die Plattformen auch sehr oft genutzt, um Hubschrauber zu starten und ukrainisches Territorium, Infrastruktur für den Getreideexport und Häfen anzugreifen", sagt Expertin Garber. Auch für die Stationierung von Langstreckenraketen könnten die Bohrinseln nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums genutzt werden. Durch die Rückeroberung der ukrainischen Spezialkräfte sei Russlands Fähigkeit nun erheblich eingeschränkt, diesen Teil des Schwarzen Meeres zu kontrollieren, so Garber.
Bevor Russland die Krim annektiert hatte, bezog die Ukraine einen Großteil ihres Erdgases aus dem Schwarzen Meer. Im nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres, der für den Getreideexport der Ukraine von großer Bedeutung ist, gibt es rund zehn Öl- und Gasplattformen. Sie gehören dem Energieversorger Tschernomorneftegas, der seit der Krim-Annexion unter der Kontrolle der russischen Besatzungsbehörden steht. Seit Beginn des Krieges hatte die Ukraine immer wieder versucht, die Russen von den Plattformen zu vertreiben. "Dies ist das erste Mal, dass die ukrainischen Streitkräfte eine Bohrinsel zurückerobert haben, und es wird schwierig sein, die Kontrolle zu behalten", sagt Garber. Für Russland sei es ein Leichtes, die Plattform mit Raketen zu beschießen, weil die Ukraine nicht über ausreichende Luftabwehrsysteme verfüge.
Die Angriffe auf von Russland besetzte Bohrinseln müssen jedoch in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden: Für Russland ist es jetzt schwieriger geworden, ukrainische Getreideschiffe zu verfolgen. Die Rückeroberung der Plattform deutet Garber als die ukrainische Antwort auf Russlands Versuch, die Kontrolle über das Schwarze Meer und die Getreideexporte der Ukraine zu erlangen. "Russland wird nun seine Angriffe auf Häfen und andere Infrastruktur fortsetzen", sagt die Expertin in Odessa. Die Ukraine benötige daher mehr Luftverteidigungs- und Küstenschutzsysteme, damit Schiffe das Schwarze Meer wieder sicher befahren und die Ukraine den Getreideexport auf die Weltmärkte wieder aufnehmen kann. "Russland darf nicht der Hausherr des Schwarzen Meeres sein."
Der ukrainische Geheimdienst erklärte, bei der Rückeroberung der Plattform sei es "zu einem Gefecht zwischen ukrainischen Spezialkräften auf Booten und einem russischen Su-30-Kampfjet" gekommen. Das Flugzeug sei getroffen und zum Rückzug gezwungen worden. "Das ist eindeutig eine neue Art der Kriegsführung", sagt Garber über die Operation und die Ausweitung der Offensive auf Bohrinseln. "Das ist eine neue Dimension." Die Ukrainer seien schon seit Beginn des Krieges sehr kreativ gewesen, um erfolgreiche Operationen durchzuführen. In der Rückeroberung der Gasplattform sieht sie eine Fortsetzung der ukrainischen Gegenoffensive, die derzeit den Süden des Landes von der russischen Besatzung befreit. "Das ist eine klare Botschaft an Russland, dass die Ukraine auch das Schwarze Meer befreien will."
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