
Sinwar gilt als Regisseur des grausamen Massakers, bei dem am 7. Oktober 1200 Israelis, überwiegend Zivilisten, getötet und 240 Menschen verschleppt wurden. Kein Wunder also, dass die Ergreifung des Gaza-Chefs in Israel höchste Priorität hat. Die Hamas-Kommandeure werden bekämpft, egal wo sie sich aufhalten, kündigte jüngst Ronen Bar an, Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet: "Überall, im Gazastreifen, im Westjordanland, im Libanon, in der Türkei, in Katar, überall."
Doch am sichersten fühlt sich Sinwar noch immer im Gazastreifen, in dem er 1962 geboren wurde, als dieser noch von Ägypten besetzt war. Damals lebten in dem Gebiet etwa 320.000 Menschen, heute sind es zwei Millionen.
Der Sechstagekrieg von 1967, als Israel die Kontrolle in Gaza übernahm, und der sich anschließende Jom-Kippur-Krieg 1973 prägten ihn als Kind. Ebenso die Geschichten der Eltern, die aus einer Gegend 48 Kilometer nordöstlich von Chan Junis stammten, wo heute die israelische Stadt Aschkelon liegt.
In den 80er-Jahren während der Ersten Intifada, als die Palästinenser mit Steinen (und später mit Selbstmordbomben) gegen die Besatzer aufstanden, schloss sich Sinwar, damals Arabisch-Student der Islamischen Universität Gaza, der neu gegründeten Hamas an. Er diente bei den Kassam-Brigaden, der Militärorganisation, und in einer Art Inlandsgeheimdienst. Dort musste er sich um "Sittlichkeitsverbrecher" und Kollaborateure in den eigenen Reihen kümmern.
Er fiel dabei durch eine besondere Brutalität auf, so dass er sich alsbald als "Schlächter von Chan Junis" einen Namen machte, der auch israelische Strafverfolger auf den Plan rief: Wegen Mordes an vier mutmaßlichen Kollaborateuren und zwei israelischen Soldaten verbrachte er mehr als zwei Jahrzehnte in israelischer Haft.
Er nutzte sie, um Hebräisch zu lernen – und die Mentalität seiner Todfeinde gleich dazu. Er soll systematisch Bücher über prominente zionistische Persönlichkeiten gelesen haben, darunter auch über die früheren Regierungschefs Menachem Begin und Izchak Rabin. Ebenso verfolgte er israelische Medien aufmerksam. Das alles ließ ihn zu einem Kenner der israelischen Gesellschaft werden.
Den mutmaßlich stärksten Eindruck hinterließ bei Jinwar jedoch die Tatsache, dass Israel 2011 bereit war, im Austausch für den entführten Soldaten Gilad Schalit 1027 palästinensische Häftlinge freizulassen – darunter auch verurteilte Mörder wie ihn.
"Er hat im Gefängnis jemanden geköpft, weil er ihn der Zusammenarbeit mit Israel verdächtigte, und benutzte dabei das Waschbecken im Badezimmer. Gnadenlos. Und das ist der Mann, der heute in der Hamas im Gazastreifen das Sagen hat", äußerte Mussab Hassan Jussef, der in den Westen übergelaufene Sohn eines Hamas-Mitbegründers. Als "grausame, psychopathische Persönlichkeit" beschrieb ihn der Tel Aviver Anti-Terror-Experte Kobi Michael.
Allein auf Grund seiner Haftzeit in israelischen Gefängnissen und der ihm zur Last gelegten Haftstrafen habe er sich automatisch für höhere Aufgaben in der Hamas-Hierarchie empfohlen. Bevor er 2017 Hamas-Chef im Gazastreifen wurde, sei er für den Kontakt wischen militärischem und politischem Arm zuständig gewesen.
Der Horror-Anschlag vom 7. Oktober war "die Mission seines Lebens", glaubt Kobi Michael. Schätzungsweise zehn Jahre sei der Plan gereift.
Die Hamas schaffte es nicht, die internationale Isolation zu durchbrechen. Die Situation in Gaza und Westjordanland blieb ungelöst, die Weltgemeinschaft schien das Interesse am Konflikt zu verlieren. Beides führte dazu, dass innerhalb der Führung der Terrorgruppe die Überzeugung reifte, nur eine Wahnsinnstat wie jene vom 7. Oktober könne Bewegung in den festgefahrenen Nahost-Prozess bringen, glauben heute Beobachter. Sinwars Ansatz sei es gewesen, "so viele Israelis wie möglich zu ermorden", so Kobi Michael, der glaubt, dass Sinwar "einen strategischen Plan hatte, alle Fronten gegen Israel zu aktivieren".
Ziel sei "eine Zangenbewegung, die zum Zusammenbruch Israels führt" gewesen. Die "Achse des Widerstands" unter iranischer Führung beabsichtige einen langfristigen Zermürbungskrieg, der Israel gesellschaftlich und wirtschaftlich in die Knie zwingen solle. Doch das hat sich als Irrtum herausgestellt – bislang!
Die 23 Jahre hinter israelischen Gittern, dazu zahlreiche Attacken auf seine Person, die er unbeschadet überstand, haben ihn offenbar verrohen lassen. Den Tod fürchtet er nicht. Hamas-Führer leben gefährlich.
Nach einer vergeblichen israelischen Luftattacke auf ihn verkündete er in den sozialen Netzwerken, er werde jetzt eine Stunde lang zu Fuß durch Gaza-Stadt laufen – unterwegs stellte er sich Anwohnern für Dutzende Selfies zur Verfügung.
"Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn finden", war sich am Mittwoch vergangener Woche der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sicher. Neben der politischen Notwendigkeit sind es auch persönliche Gründe, die Netanjahu umtreiben. War er es doch, der 2011 die Freilassung Sinwars im Austausch gegen Gilad Schalit politisch verantwortete – wofür er heute von vielen kritisiert wird.
Netanjahu empfahl den Hamas-Kämpfern am Wochenende, aufzugeben und sich nicht für ihren Chef zu opfern. "Ich sage den Hamas-Terroristen: Es ist vorbei. Sterbt nicht für Sinwar! Gebt auf! Jetzt!"
An einer strikten Verknüpfung des Schicksals von Sinwar mit dem der Hamas zweifelt indes Harel Chorev vom Moshe Dayan Center für Nahost- und Afrikastudien an der Tel Aviv University. Selbst wenn die israelische Armee Sinwar aufspüren und töten sollte, bedeute das nicht zwingend, dass die Hamas aufgibt, glaubt er. Der Terrorgruppe hat schon viele ihrer Führer verloren. Zudem kann "die Hamas auch dann gestürzt werden, wenn Sinwar am Leben bleibt", sagte Chorev dem US-Sender CNN.