
Den Stein ins Rollen brachte ausgerechnet der US-Botschafter in Tokio. Entgegen den diplomatischen Gepflogenheiten lieferte Rahm Emanuel auf den sozialen Medien einen regelrechten Affront gegen Peking. So verglich der Botschafter die Personalpolitik von Präsident Xi Jinping mit dem Agatha Christie Roman "And Then There Were None". Auf Deutsch heißt das so viel wie: "Und dann waren keine mehr da". "Zuerst wird Außenminister Qin Gang vermisst, dann werden die Kommandeure der Raketenstreitkräfte vermisst, und jetzt wurde Verteidigungsminister Li Shangfu seit zwei Wochen nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen", schrieb Rahm auf seinem X-Account. Schließlich fügte er zynisch, in Anspielung an die derzeit rekordhohe Jugendarbeitslosigkeit in China, hinzu: "Wer wird diesen Arbeitslosenwettlauf gewinnen? Chinas Jugend oder Xis Kabinett?".
Bis heute ist der ehemalige Außenminister Qin Gang spurlos verschwunden. Er wurde, ebenfalls nach einer langen und unkommentierten Abstinenz, Ende Juli seines Amtes enthoben. Die genauen Hintergründe sind nach wie vor Anlass für Spekulationen. Eine offizielle Erklärung ist die Parteiführung in Peking schuldig geblieben.
Zudem hatte Xi Jinping zu Beginn des Jahres zwei führende Militärs aus ihren Ämtern enthoben. Dabei handelte es sich um die Führungsriege der Raketenstreitkräfte, der vielleicht wichtigsten Einheit der Volksbefreiungsarmee. Sie verfügt schließlich unter anderem die Kontrolle über das Atomwaffenarsenal des Landes. Auch hier sind die Hintergründe bislang vollkommen unklar. Eine mögliche Erklärung würde die Korruptionsuntersuchung bieten, welche Xi im Juli gegen die Armee einleiten ließ. Dabei geht es um mögliche Bestechungen bei der Beschaffung von Ausrüstungsgegenstände.
Angesichts der zunehmenden Intransparenz des chinesischen Machtapparats ist es nahezu unmöglich, definitive Rückschlüsse zu ziehen. Doch die Säuberungswelle ist ein deutlicher Indikator dafür, dass Xi darum fürchtet, seine sattelfeste Kontrolle über die eigene Armee zu verlieren. Ob Li Shangfu nun ebenfalls dasselbe Schicksal wie Qin Gang ereilt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Von offizieller Seite gibt es bislang weder Dementis noch Bestätigungen. Als die Sprecherin des Außenministeriums bei der täglichen Pressekonferenz nach der Causa befragt wurde, antwortete sie trocken, ihr sei die Angelegenheit "nicht bewusst".
Doch die Gerüchte über Li Shangfus Fernbleiben haben längst Eingang in das streng abgeschirmte, chinesische Internet gefunden. Die meisten Postings haben die Zensoren zwar mit Stand Mittwoch bereits wieder gelöscht. Doch ein paar Kommentare lassen sich noch finden. Ein User auf der Online-Plattform Weibo postete etwa kommentarlos einen Screenshot, auf dem die letzten, über zwei Wochen zurückliegenden Termine des Verteidigungsministers aufgelistet sind. Die Botschaft seine s Beitrags bleibt unausgesprochen, doch ist für alle Mitwissenden offensichtlich.
Am Mittwoch legte nun Reinhard Bütikofer, Grünen-Politiker im Europäischen Parlament, mit einem hochprovokanten Tweet nach: "Vielleicht sollte jemand prüfen, ob Li Shangfu möglicherweise auf mysteriöse Weise bei einem Flugzeugabsturz in der Mongolei ums Leben gekommen ist", schrieb er. Seine Stellungnahme spielt auf den hochrangigen Politiker Lin Biao an, der 1971 nach einem gescheiterten Staatsstreich auf der Flucht in die Mongolei starb. Ob es sich bei seinem Tod um einen Flugzeugunglück oder einen gezielten Auftragsmord von Staatsgründer Mao Tsetung handelte, ist bis heute nicht geklärt.
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