Ein bisschen wusste er wohl schon, was auf ihn zukam – er hatte die Diskussionen zuvor von unterwegs im Livestream verfolgt. Den Auftritt von SPD-Chefin Saskia Esken zum Beispiel. Vor vier Jahren, als die SPD in einer schweren Krise war, war Esken für viele Jusos so etwas wie eine Hoffnungsfigur. Sie unterstützten ihre Wahl, mit ihrem damaligen Co-Kandidaten Norbert Walter-Borjans setzte sich die bis dato eher unbekannte Esken gegen den damaligen Finanzminister und heutigen Kanzler Olaf Scholz durch.
Heute ist da offenbar viel Enttäuschung. Die Juso-Delegierten reagieren nur verhalten auf Eskens Rede, oft schweigen sie einfach, wenn die Parteichefin Pausen lässt für Applaus. Das Titelblatt des "Spiegel" mit dem Scholz-Zitat "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben" habe auch sie erschreckt, räumt sie ein. "Aber wenn man das ganze Interview des Kanzlers liest, dann kann man den ganzheitlichen Ansatz der Migrationspolitik der Ampel schon erkennen." Die Antwort im Saal: Stille."Was mich extrem beunruhigt, ist, dass ich damals sowas wie Aufbruch in dieser Partei gespürt habe. Uns war allen irgendwie bewusst, dass sich etwas ändern muss", wirft ihr der gerade neu gewählte Bundesvorsitzende Philipp Türmer vor und schließt: "Liebe Saskia, ich sehe diesen Aufbruch nicht."
Als Esken aufbricht, halten einige Jusos aus Protest das "Spiegel"-Cover von Scholz hoch und skandieren: "Say it loud, say it clear, refugees are welcome here", also "Sag es laut, sag es klar, Flüchtlinge sind hier willkommen".
Kühnert ist es gewesen, der die Stimmung im SPD-Mitgliederentscheid für Esken und Walter-Borjans wesentlich mit beeinflusste. "Königsmacher" wurde er damals genannt. Als er bei den Jusos die Bühne betritt, haben die Delegierten bereits mehr als elf Stunden hinter sich. Die Tische sind voll mit leeren Süßigkeitenpackungen, die Mate-Flaschen längst ausgetrunken. Die Stimmung ist aufgedreht. Die zahlreichen Gegenreden lassen sich auch als Versuch zu verstehen, im Regierungsgetümmel nicht auch noch Kühnert als Hoffnungsfigur an eine Politik zu verlieren, die man hier als Neoliberalismus bezeichnet.
"Ihr habt auch an einigen Stellen recht", gibt sich Kühnert einsichtig. "Dass wir zu zufrieden geworden sind in dieser Koalition und uns zu oft verstecken hinter Argumenten." Aber er betont auch: "Es wird nicht reichen, auf jeder Bühne Christian Lindner zu beschimpfen." Die Jusos werden kreativer sein müssen, um sich Handlungsspielräume zu erkämpfen. "Ich bitte euch, dass wir nicht allen Weltschmerz auf unseren Schultern verteilen und so tun als ob wir gar nichts geschafft hätten."
Viel Applaus und Jubel gibt es für die drei Thesen, die er zur Diskussion stellt: Die SPD habe gerade keine Deutungshoheit über Begriffe, Fluchtmigration brauche Regeln und es gebe noch keinen Fahrplan für Politik ohne linke Mehrheiten in Politik und Gesellschaft. Kühnert spricht sich für Klarheit im Nahost-Konflikt aus. Den Terror der Hamas und das Existenzrecht Israels klar zu benennen, sei nicht so schwer wie viele meinten. Das Narrativ des Leistungsprinzips müsste zurückerkämpft werden und sozialdemokratisch interpretiert werden. Immerhin gehöre dazu auch sowas wie die Erbschaftssteuer.
Er stellt sich gegen die von Union und FDP durchgesetzten Bezahlkarten für Asylbewerber. Und er stellt eine neue Mission in den Raum: Die Linksfraktion löse sich auf, diese Lücke müsse gefüllt werden – eine Chance für die SPD. "Das ist mein Versprechen an euch", sagt er und fügt hinzu: "Wir müssen das Bollwerk für diesen Sozialstaat sein, damit dieser Sozialstaat nicht bei der nächsten Bundestagswahl in den Boden gerammt wird."
Der einstige Juso-Chef muss nun den nächsten SPD-Wahlkampf organisieren. Er appelliert an die Delegierten: "Diese Sozialdemokratie braucht mehr Hummeln im Hintern." Zuweilen klingt es so, als wolle er selbst eine dieser Hummeln sein .