Knapp zwei Drittel der Französinnen und Franzosen sprechen sich in Umfragen gegen das Reformvorhaben aus. Vergangene Woche beteiligten sich an Streiks und Protesten nach Angaben des Innenministeriums 1,27 Millionen Menschen. Der Gewerkschaft CGT zufolge waren es sogar 2,8 Millionen - mehr als beim ersten Aktionstag zwei Wochen zuvor. "Die Menschen fühlen sich im Augenblick von der Regierung schlecht behandelt", meint Protestforscher Johannes Maria Becker von der Uni Marburg. Die Bewegung könnte anhalten.
Die Pläne sehen vor, das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anzuheben. Längst nicht alle in Frankreich gehen heute jedoch mit 62 in den Ruhestand. Abschlagfrei wird die Rente erst, wenn lange genug eingezahlt wurde - oder mit 67.
Doch nicht nur am Rentenalter will die Regierung schrauben. Die bereits vor Jahren beschlossene Anhebung der nötigen Einzahldauer für eine volle Rente soll beschleunigt werden. Außerdem sollen Einzelrentensysteme mit Privilegien für bestimmte Berufsgruppen abgeschafft werden. Die Mindestrente soll auf etwa 1200 Euro steigen.
Dass es eine Änderung braucht, legen offizielle Prognosen nah, die für die kommenden Jahre Defizite der Rentenkasse aufzeigen. Macron und seine Regierung pochen darauf, dass eine Anhebung des Rentenalters notwendig sei. Monika Queisser, Sozialpolitikexpertin bei der Industriestaatenorganisation OECD, gibt zu bedenken: "In jedem Umlagesystem gibt es grundsätzlich drei Stellschrauben: das Rentenalter, die Rentenhöhe und den Beitragssatz. Zusätzlich können Länder natürlich auch Steuerzuschüsse leisten, wie das in Deutschland mit dem Bundeszuschuss der Fall ist."
Queisser erklärt, dass der Beitragssatz in Frankreich mit rund 28 Prozent vom Bruttolohn schon hoch sei, und die Renten den Prognosen zufolge langfristig sinken würden. "Die Anhebung des Rentenalters bringt gleichzeitig mehr Beiträge in die Rentenkassen und reduziert die Ausgaben für Renten, da diese erst später ausgezahlt werden."
Dass die Rentenpläne so viele Menschen auf die Straße bringen, liegt Becker zufolge auch an einer anderen Demonstrationskultur. "In Frankreich, in diesem zentralen Land, sagen die Leute, wenn irgendetwas nicht vernünftig läuft: "Der Staat funktioniert nicht, die da oben." Bei uns sagen die Leute: "Oh verdammt, was habe ich in meinem Leben falsch gemacht?"" Entsprechend gibt es in Frankreich zuhauf Forderungen, der Staat solle mehr Geld für die Rentenkasse aufwenden.
Die Proteste zeigen Wirkung. Selbst in Macrons Fraktion gibt es Abgeordnete mit Vorbehalten, ebenso bei den konservativen Républicains, mit deren Stimmen die Regierung die Reform durchs Parlament zu bringen hofft. Regierungschefin Élisabeth Borne versucht nun, die Républicains mit Zugeständnissen zum Ja zu bewegen. Am Montag begann die Debatte in der Nationalversammlung. Anschließend ist der Senat am Zug, die zweite Kammer.
Macron lässt Borne die Kämpfe ausfechten. Von den Protesten scheint er unbeeindruckt - vielleicht, weil er nach der zweiten Amtszeit ohnehin nicht mehr antreten kann. Vielleicht auch, weil er trotz etlicher Krisen in der ersten Amtszeit wiedergewählt wurde und sich jetzt immun gegen Protest wähnt. Sollte das Reformvorhaben scheitern, wäre Macron jedoch für die restlichen vier Amtsjahre geschwächt.
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