![Der libanesische Staat zerfällt, erdrückt von einer schweren Wirtschaftskrise. Jetzt droht zusätzlich eine militärische Eskalation zwischen Hisbollah und Israel. Die Libanesen fühlen sich hilflos. Denn andere entscheiden über ihre Zukunft. Libanon galt einmal als wohlhabende Finanz- und Handelsmacht und nannte sich die "Schweiz des Nahen Ostens"](/sites/default/files/styles/wide/public/2023-11/Grenze%20Libanon%20Israel.jpg?itok=A_H00H_H)
Das Ehepaar hörte das dumpfe Knallen der Einschläge, als der Fahrer in Richtung der knapp 90 Kilometer entfernten Hauptstadt davonbrauste. Die Grenze zwischen dem Südlibanon und Israel liegt nur einige Kilometer entfernt. Seit dem Beginn des Krieges zwischen der Hamas und Israels am 7. Oktober feuert die schiitische Hisbollah-Miliz über die Köpfe der Olivenbauern hinweg Raketen in den Norden Israels. Israel bombardiert Stellungen der Hisbollah im Südlibanon. Geschosse sollen laut Angaben der Regierung in Beirut mitten in der Erntezeit Brände entzündet haben. 40.000 Olivenbäume hätten die Flammen bereits verschlungen.
Die Vögel picken nun die Ernte vom Boden, während die Raketen in verschiedene Himmelsrichtungen über die Plantage zischen. Ein Geschoss ist bereits zwischen den Olivenbäumen der al-Jamals eingeschlagen.
Das Ehepaar hat Glück. Es hat sich in guten Zeiten eine Wohnung in Beirut gekauft. Insgesamt sind bislang 29.000 Libanesinnen und Libanesen aus dem Süden in andere Landesteile geflohen. Nicht alle kamen bei Verwandten unter. Ein Netzwerk aus Freiwilligen versorgt Geflüchtete in eilig leer geräumten Schulen. Dem seit dem Beginn der Wirtschaftskrise 2019 klammen Staat fehlen für die Unterbringung die Mittel, die Menschen schlafen zwischen Schulbänken. Und sie fürchten, dass der Krieg ihnen folgt.
Als der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am 3. November zum ersten Mal seit dem Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel vor seine Anhänger trat, hielt der Libanon den Atem an. Als der Turban tragende Generalsekretär vor seine Milizionäre trat, waren die Straßen Beiruts leergefegt. Viele glaubten, dass Nasrallah die vom Iran finanzierte und mit modernsten Waffen ausgerüstete Hisbollah in voller Stärke in den Krieg gegen Israel werfen würde. Doch die Hisbollah setzte ihre Angriffe fort, ohne ihr Arsenal ganz einzusetzen.
Eine israelische Drohne traf am 11. November einen Truck jenseits der Grenzregion, 45 Kilometer im Landesinnern. Nasrallah wandte sich am selben Tag an seine Anhänger und sprach neue Drohungen aus. Mehr als 70 seiner Kämpfer sind bisher gefallen. Immer wieder sterben auch Journalisten unter Beschuss. Der als Hisbollah-freundlich geltende Sender Al Mayadeen verlor am 21. November eine Korrespondentin und einen Kameramann im Bombenhagel. Die Grenze bebt. Aber sie ist bisher nicht in die Luft gegangen.
Die letzte offene Schlacht zwischen Israel und Hisbollah begann 2006 mit Kämpfen im Gazastreifen. Israel bombardierte damals Ziele im ganzen Libanon. Inzwischen hat sich die Schiitenmiliz zu einer viel ernsteren Gefahr für Israel entwickelt. Sie könnte bis 150.000 Raketen auf den Nachbarn abfeuern. Israels Gegenschlag dürfte entsprechend ausfallen.
Wenn das geschehe, breche die Hölle über den Libanon herein, sagt Hani al-Jamal. Krieg mit Israel war für den Landwirt immer Teil des Lebens wie die Olivenernte. Frieden und Bomben wechselten sich ab wie die Jahreszeiten. Das Ehepaar hätte die Möglichkeit, sein Land zu verlassen. Die Kinder leben im Ausland. "Wir sind dafür zu alt", sagt Wafaa al-Jamal. Sie sind wie ihre Olivenbäume tief verwurzelt in der fruchtbaren, aber verfluchten Erde.
Beirut machte am 4. August 2020 bereits Bekanntschaft mit der Hölle. Tausende Tonnen des explosiven Düngers Ammoniumnitrat entzündeten sich am späten Nachmittag im Hafen. 200 Menschen starben.
Khuloud Abdessamad erinnert sich an das Wimmern und die Schreie in der Nacht des Unglücks. Freiwillige Helferinnen und Helfer wie sie warteten vor den Trümmerbergen auf die Feuerwehr, auf die Armee, auf irgendjemanden, der das Kommando übernimmt. Aber niemand tauchte auf. Die Schreie wurden leiser. "Meine Freundin hat einen Catering-Service und verfügt über gute Kontakte. Sie überzeugte einen Unternehmer, einen Kran zu uns zu schicken", sagt Abdessamad. Vom libanesischen Staat hat sie in der Katastrophennacht nichts gesehen.
Die Libanesin denkt seit dem Beginn des Krieges zwischen Israel und Gaza immer wieder an das Blut und die abgerissenen Körperteile, die sie in der Nacht nach der Explosion gesehen hat. Doch da ist noch mehr, was sie um den Schlaf bringt. "Wenn die Israelis Beirut bombardieren, dann gibt es keine Hilfe. Unser Staat ist gescheitert", sagt Abdessamad.
Abdessamad sitzt vor ihrem Laptop im Garten eines Cafés in der Beiruter Innenstadt. Eigentlich ist es zu dunkel zum Arbeiten. Die Straßenlampen sind ausgefallen, Strom ist rar. Dem Staat fehlen Devisen, um Treibstoff für Kraftwerke zu kaufen. Abdessamad arbeitet für eine Firma in Saudi-Arabien. Sie müsse sich seit Kriegsbeginn zwingen, ihre Arbeit zu erledigen und nicht ständig an Eilmeldungen in ihrem Nachrichtenfeed hängenzubleiben.
Das Smartphone ist zum Orakel geworden. Neue Gefechte zwischen der schiitischen Hisbollah-Miliz im Süden des Landes und Israel scheinen die Apokalypse näher rücken zu lassen. Ein ruhiger Tag an der Front lässt aufatmen. "Ich habe keinen Plan B für den Ernstfall", sagt die 29-Jährige. Ihre Freunde seien nach und nach ins Ausland verschwunden. Abdessamad ist geblieben und hat sogar ein Stipendium für einen Master in Deutschland sausen lassen. "Es ist unmöglich, irgendetwas zu planen. Ich könnte nächstes Jahr schon tot sein", sagt sie.
Im Herbst 2019 stand die junge Akademikerin mit Hunderttausenden Libanesinnen und Libanesen auf dem zentralen Märtyrerplatz in Beirut und forderte Reformen. Die "Thawra" – Revolution – genannten Proteste entzündeten sich im Oktober 2019 an Steuererhöhungen und führten zum Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Saad Hariri. 2019 kollabierte der Finanzsektor. Das libanesische Pfund stürzte auf Ramschniveau ab. Inzwischen kostet eine Pizza einen Millionenbetrag. Manche nannten die friedlichen Proteste "Oktoberrevolution". Aber die Forderungen der Demonstranten klangen sehr bürgerlich. Die Macht sollte nicht mehr zwischen den Eliten der Christen, Sunniten und Schiiten aufgeteilt werden. Stattdessen sollte das Leistungsprinzip in Politik und Wirtschaft Einzug halten. Die "Thawra" scheint zwischen den Krisen weitgehend verpufft zu sein.
Der Kampf ums tägliche Überleben in einem laut Weltbank von der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 1850 gebeutelten Land lässt keinen Atem mehr für Visionen und Reformeifer. Seit dem Rücktritt des Staatspräsidenten Michel Aoun im vergangenen Herbst ist es nicht gelungen, ein neues Staatsoberhaupt zu wählen. Ministerpräsident Miqati führt eine Übergangsregierung. Die Zentralbank und die Behörden sind führungslos. Für den Armeechef findet sich kein Nachfolger. "Die junge Generation lebt in einem Land, dass sich weigert, sich zu wandeln", stellt die frühere Aktivistin Abdessamad fest.
Der Analyst Yeghia Tashjan vom Issam-Fares-Institut für Internationale Politik an der American University of Beirut (AUB) hat seine Mutter vor der Rede des Hisbollah-Führers am 3. November angerufen. Er bat sie, sich für einige Wochen mit Lebensmitteln einzudecken.
Das Issam-Fares-Institut liegt in einem Kubus aus Beton und Glas auf dem Gelände der Amerikanischen Universität. Auf den Gängen herrscht Stille. Viele Studierende seien ins Ausland geflohen, erklärt Tashjan. Der Politikwissenschaftler wagt keine Prognose, wann seine Hörsäle wieder gefüllt sein werden. Er fürchtet einen langen Krieg in Gaza, auch wenn nun eine Feuerpause und die Freilassung von israelischen Geiseln in Gaza vereinbart ist. Der Analyst hält nach der Rede des Hisbollah-Chefs die Gefahr immerhin für geringer, dass die Hisbollah eine zweite Front eröffnen will. Tashjan sieht in Nasrallah einen Taktiker, der einschätzen könne, wann er sein Blatt überreizt. "Sollte die Hamas aber wirklich vor der Niederlage stehen, dann wird die Hisbollah voll in den Krieg eintreten."
Die Libanesen wüssten, dass ein ausgewachsener Krieg ihrem Land das Genick brechen könnte, sagt der Analyst. Die meisten Libanesinnen und Libanesen beschränken sich auf digitale Sympathiebekundungen für die Palästinenser. Das seien Ersatzhandlungen. "Selbst meine Studierenden aus dem Einflussgebiet der Hisbollah im Süden fragen sich bei aller Solidarität mit den Palästinensern: Was wird aus dem Ganzen?", sagt Tashjan.
Israel könnte wie im Krieg 2006 eine Seeblockade vor der Küste des Libanons errichten. Dann reichen Essen und Medikamente laut der Übergangsregierung für ein bis zwei Monate. Libanon speicherte seine Vorräte für Notzeiten ausgerechnet in dem als Ruine weltweit bekannt gewordenen Getreidesilo im Hafen von Beirut. Das halbeingestürzte Bauwerk steht nun wie ein Mahnmal da für ein Land, das sich nicht selbst helfen kann.
Die Preise für Lebensmittel steigen. 80 Prozent der Bevölkerung fristeten ihr Leben aber schon vor dem 7. Oktober unterhalb der Armutsgrenze. Dabei galt Libanon einmal als wohlhabende Finanz- und Handelsmacht und nannte sich die "Schweiz des Nahen Ostens". Nach vier Jahren Wirtschaftskrise sind auch pleitegegangene Unternehmer auf Suppenküchen angewiesen.
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Post- und Büroanschrift Malta - die klevere Alternative
Nation Station spüre bereits die Last des drohenden Krieges, sagt sie. Die Organisation finanziert sich neben Spenden vor allem durch Catering. "Jetzt sind alle Events abgesagt", sagt Abou Abdu. Doch es soll weiter gehen: "Wir machen auch bei Angriffen auf Beirut weiter, es sei denn, es ist so gefährlich, dass keiner von uns das Haus verlassen kann."
Der 66 Jahre alte Georg Katra steht in der Schlange an. Er beziehe sein ganzes Essen von Nation Station, weil er vollkommen mittelos sei, sagt er. Das Hemd schlackert um seinen dürren Oberkörper. Wenn der Krieg ausbricht, werde er in seiner Wohnung sitzenbleiben. "In unserem Land sind diejenigen, die noch am Leben sind, einfach noch nicht gestorben."