Die Lesungen finden alle am Donnerstag einer Bundestags-Sitzungswoche statt, dem arbeitsreichsten Tag für Abgeordnete. In Jena besteigt Wagenknecht danach eine schwere Limousine mit saarländischem Kennzeichen für den langen Weg in ihre neue Heimat, wo sie mit ihrem Mann Oskar Lafontaine wohnt. Ihr Mandat in der Linksfraktion, so scheint es, füllt sie mit weniger Engagement aus als andere Tätigkeiten.
Am Montag soll es nun in Berlin zum lange angekündigten Bruch kommen. Wagenknecht wird in der Bundespressekonferenz einen Verein vorstellen, der als Vorstufe zu einer Parteigründung dienen und Spenden einsammeln soll. Die offizielle Parteigründung könnte erst im Januar erfolgen – das ist wegen der Parteienfinanzierung günstiger. "BSW - Für Vernunft und Gerechtigkeit" ist der Name des in Karlsruhe gegründeten und beim Amtsgericht Mannheim eingetragenen Vereins. BSW steht für "Bündnis Sahra Wagenknecht". Neben Wagenknecht werden Linken-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali und der Abgeordnete Christian Leye aus Duisburg auf der Bühne sitzen. Ob die drei bereits ihren Austritt aus Linkspartei und Fraktion bekanntgeben, ist unklar.
In der Linksfraktion wird vermutet, dass Wagenknecht und ihre Vertrauten versuchen werden, zumindest in der Fraktion zu bleiben. So könnten sie Mitarbeiterstellen und Etat für die neue Bewegung nutzen. Wenn sie dann ausgeschlossen würden, wäre für alle Linken-Abgeordneten der Fraktionsstatus futsch. Aus den zurzeit 38 Linksfraktions-Mitgliedern würden sich dann zwei parlamentarische Gruppen bilden: Wagenknechts Abspaltung mit ungefähr zehn Mitgliedern und der Rest. Linken-Parteichefin Janine Wissler sagte, wenn es die Fraktion nicht mehr gebe, dann sei das allein die Verantwortung von Wagenknecht und ihrer Unterstützer.
Vergangene Woche haben 58 prominente Linken-Politiker einen Antrag auf Parteiausschluss Wagenknechts gestellt. Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner gehört dazu. Sie sagte jetzt: "Wenn Sahra Wagenknecht am Montag ihren Austritt aus der Partei Die LINKE erklärt, ist das Ausschlussverfahren erledigt weil erfüllt. Tritt sie nicht aus, wird es sicher zügig und eindeutig umgesetzt werden."
Was wäre von einer neuen Wagenknecht-Partei zu erwarten? Antworten finden sich in ihren Büchern – und auch auf einer Website, die am Donnerstag kurzzeitig online war und dann wieder verschwand. Die Adresse www.bswpartei.de gibt als Impressum Wagenknechts Bundestagsbüro an. Dort reagiert man nicht auf die Anfrage, ob der in den Farben Blau und Orange gehaltene Auftritt authentisch ist.
Sowohl Farbe als auch Inhalt sind spannend: Die politische Farbe Orange wird bisher meist von den Freien Wählen besetzt, ist aber bundesweit noch "frei". Und die Begriffe "Vernunft" und "Gerechtigkeit" sind klassische Begriffe aus "der Werkzeugkiste populistischer Bewegungen", sagt die Bielefelder Historikerin Christina Morina. "Die Berufung auf den "gesunden Menschenverstand" als Kompass für eine Politik, die vermeintlich einfach nur den "wahren Volkswillen" umsetzen muss, ist eine klassische rhetorische Strategie", meint Morina. "Sahra Wagenknecht ist eine kluge und belesene Frau, und sie tut dies sicher mit Kalkül, was einiges über ihr problematisches Verständnis von repräsentativer Demokratie aussagt."
Bei ihrem Auftritt in Jena tut Wagenknecht wenig mehr, als im schwarzen Kostüm hinter einem schwarzen Tisch sitzend die Einleitung zur Taschenbuchausgabe ihres Bestsellers "Die Selbstgerechten" vorzulesen. Das Publikum hängt dennoch eine Dreiviertelstunde gebannt an ihren Lippen. In der an charismatischen Persönlichkeiten armen deutschen Politik sticht Wagenknecht auf jeden Fall heraus.
Viele ihrer Botschaften sind einfach: Sie bezeichnet die Bundesregierung unter Szenenapplaus als die "dümmste Regierung Europas, wenn nicht der Welt". Sie beklagt, "die Eliten machen eine Politik, die der Wähler für falsch hält". Sie will denen eine Stimme geben, die sich "von keiner Partei mehr vertreten fühlen". Das weckt Hoffnungen, nicht zuletzt auf ein Rezept gegen den Höhenflug der AfD. Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge sieht eine Wagenknecht-Partei als "positiven Beitrag zur Sicherung der Demokratie". Für ihn stehe "ganz klar der Aspekt im Vordergrund, der AfD das Wasser abzugraben", sagt er.
Butterwegge wurde 2017 von der Linken als Bundespräsidenten-Kandidat aufgestellt, seine Frau Carolin war 2022 Spitzenkandidatin für die Linke in Nordrhein-Westfalen. Beide stehen auf der Liste der Aufrufenden für Wagenknechts nächste Anti-Kriegs-Demonstration in Berlin am 25. November. Eine Wagenknecht-Partei, meint er, könne die "Abgehängten mitnehmen und Sprachrohr der Menschen sein, die von sozialem Abstieg bedroht sind".
Zwei Probleme aber kommen auf die Neugründung zu: Wagenknecht zieht mit ihrer migrationskritischen, russlandfreundlichen und Corona-maßnahmenkritischen Haltung auch Fans von Rechts und aus dem "Querdenker"-Lager an. Sie selbst spricht seit Wochen davon, dass es eine Herausforderung werden, "die Verrückten" draußen zu halten. Das Vereinsrecht gibt da mehr Möglichkeiten als das Parteienrecht, auch dies könnte ein Grund dafür sein, mit der Parteigründung noch zu warten. Das zweite Problem: Die Vorbereitungskader sind bisher sehr westdeutsch geprägt, das größte Wählerpotenzial aber liegt im Osten. Kein einziger ostdeutscher Bundestagsabgeordneter ist wechselwillig, auch in den Landtagen sieht es mau aus.
Sören Pellmann, der 2021 im Leipziger Süden das Direktmandat für den Bundestag gewonnen hatte, galt lange als Wagenknecht-Unterstützer, er ruft auch zur Demonstration am 25. November auf. Am Donnerstag aber sagte er der "Leipziger Volkszeitung": "Ich habe für mich entschieden, einem Parteiprojekt von Sahra Wagenknecht, sollte es denn ein solches geben, weder anzugehören noch es zu befördern."
Erfahrene Altkader aus SED-Zeiten, die ideologisch mit Wagenknecht sympathisieren, scheuen davor zurück, "die Partei", die ihr Leben geprägt hat, zu zerstören. Ein BSW müsste zu den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg vermutlich mit bisher unbekanntem Personal antreten. "Sahra Wagenknecht misstraut dem Osten", sagt die Thüringer Abgeordnete Martina Renner. "Schon jetzt ist die Partei von Sahra Wagenknecht eine West-Sekte."