Deutschland hat seine einsame Unterstützung für das höchst umstrittene Pipeline-Projekt Nord Stream 2 bis Tage vor Beginn der russischen Invasion aufrecht erhalten und wiederholte Kritik aus Osteuropa, den USA und vielen westeuropäischen Ländern beiseite geschoben, selbst als Moskau bereits dabei war, seine Truppen an den Grenzen der Ukraine zur Vorbereitung auf den Krieg zu versammeln. Die Ereignisse vom 24. Februar 2022 versetzten Deutschlands eingespielter Weigerung, das Wesen von Wladimir Putins Russland anzuerkennen, einen Todesstoß. Bis dahin russische militärische Gräueltaten in Syrien, seine Kriege in Georgien und der Ostukraine und sogar dreiste öffentliche Verbrechen wie die Vergiftung von Alexander Litwinenko in London oder die Ermordung eines georgischen Staatsangehörigen, der von Putins Regime als Feind angesehen wird, in Berlin im Jahr 2019 hatte es versäumt, eine bedeutsame Verhaltensänderung in Deutschland herbeizuführen.
In Anbetracht dessen hat Deutschland in weniger als einem Jahr wirklich einen sehr langen Weg zurückgelegt. Die Deutschen haben sich von der Ablehnung von Waffenlieferungen in die Ukraine mit einer Mehrheit von fast zwei zu eins zu einer Mehrheit dafür entwickelt. Und um es klar zu sagen: Deutschland hat viel mehr geleistet, als man nach den aufreibenden Debatten um seine Beiträge im letzten Jahr glauben machen konnte.
Diese Verwirrung wiederum ist ein Ergebnis des Kommunikationsstils der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung. Wer Scholz' Beweggründe und Ziele dabei nachvollziehen will, wäre schlecht beraten, die Mitglieder seiner eigenen Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen zu fragen. Die mühselige Aufgabe, politische Ansprüche geltend zu machen, wird anderen überlassen, etwa dem Parteivorsitzenden Lars Klingbeil, der vor allem anmerkte, sein Land solle eine "Führungsmacht" sein. Oder allen voran der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, der im Dezember bereits Kanzler Olaf Scholz aufgefordert hat mehr Führungsverantwortung zu übernehmen und auf die Lieferung moderner Kampfpanzer an die Ukraine pochte. Scholz hingegen hat beim jüngsten Treffen der Ukraine-Anhänger auf dem US-Militärstützpunkt in Ramstein auf alles verzichtet, was einer Führungsrolle gleicht, insbesondere hat er es versäumt, ein westliches Bündnis für koordinierte Lieferungen von Kampfpanzern in die Ukraine zu schmieden.
Indem er sich stattdessen weiterhin hinter Washington versteckt und sich auf sein Mantra verlässt, dass Deutschland keinen "Alleingang macht", hat Scholz akzeptiert, den einzigartig wichtigen transatlantischen Beziehungen erheblichen Schaden zuzufügen, ganz zu schweigen von der weiteren Erosion des osteuropäischen Vertrauens in Berlin. Die baltischen Staaten und Polen betrachten Deutschland seit langem als ein Element der Instabilität. Ihre starken Bedenken gegen Nord Stream 2, die schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine durchaus berechtigt waren, wurden in Berlin nicht nur von Sozialdemokraten vielfach verhöhnt. Jetzt ziehen die Strippenzieher im Kanzleramt alle Register, um eine späte und politisch kostspielige Entscheidung als politisch-strategischen Geniestreich darzustellen. Scholz habe sich nicht nur nicht hinter den Amerikanern versteckt, behaupten sie, sondern seine Verhandlungstaktik hätte dazu geführt, dass nun noch mehr Panzer in die Ukraine geliefert werden.
Eine große Lücke in dieser Argumentation besteht darin, dass praktischerweise ausgeblendet wird, warum die Koalitionspartner diesen raffinierten Schachzug nie geteilt haben. In ihren Reihen spielte sich am Wochenende eine andere Geschichte ab, als die Frustration über das enttäuschende Treffen in Ramstein zu einigen geflüsterten Fragen darüber führte, ob eine weitere Zusammenarbeit mit einem Kanzler möglich sei, der so unerbittlich in seinem Bestreben schien, Deutschlands Verbündete zu verärgern. Tatsächlich spiegelt Scholz' undurchschaubares politisches Manövrieren wahrscheinlich die ebenso unklaren Positionen vieler Deutscher wieder. Die heutige deutsche Gesellschaft entwickelte sich zu einer globalen Wirtschaftsmacht. Die Deutschen begannen, die Geschichte im Wesentlichen als abgeschlossen zu betrachten, und ihre Schutzmächte, allen voran die USA, mit seichten pazifistischen Parolen zu belehren.
Deutschlands langjährige Tradition einer haarsträubenden antiamerikanischen Stimmung hat diesen Schritt ebenso erleichtert wie es seine fast romantische Sicht auf Russland beeinflusst hat. Dass Putin im Bundestag 2001 auf Deutsch sprach, war für die meisten Deutschen mehr als genug, um die Brutalität seiner Methoden zu übersehen, die er nicht zu verbergen versuchte. Nach seiner Rede erhielt Putin stehende Ovationen, während russische Truppen damit beschäftigt waren, tschetschenische Städte dem Erdboden gleichzumachen.
Russlands Völkermord in der Ukraine hat Deutschland aus seiner Komfortzone katapultiert. Eine wohltätige Interpretation wäre, dass Berlin seinen langen und beschwerlichen Weg in den globalen Westen noch vollenden könnte, einschließlich der Übernahme von Verantwortung, die über finanzielle und humanitäre Hilfe hinausgeht. In diesem Szenario könnte Kanzler Scholz als moderierende Kraft verstanden werden, die den Deutschen durch einen tiefen Realitätsschock hilft und sie sanft zu einem Punkt führt, an dem sie die Veränderungen um sie herum verarbeiten können.
Die offensichtliche Kehrseite davon ist, dass Deutschland nur deshalb weiter nach Westen ziehen kann, weil es dies zuvor nicht getan hat. So wirkt Scholz' Zaghaftigkeit wie ein verzweifelter Versuch, die Abkoppelung von einem Russland, das nichts als Tod und Zerstörung zu bringen scheint, hinauszuzögern, wenn nicht gar zu verhindern. Ein Russland, das diesen Krieg verlieren muss – eine einfache Forderung der USA, europäischen Nachbarländern und der Nato, die Scholz nach elf Monaten in diesem Krieg noch nicht öffentlich gemacht hat.
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