Die Öffentlichkeit beurteilt Biden als wenig scharfsinnig und seine Führung der Wirtschaft ist ebenfalls mangelhaft. Die rekordtiefe Arbeitslosigkeit hat es nicht geschafft, die Folgen der Inflation, der hohen Zinsen und einer unterdurchschnittlichen Aktienmarktentwicklung zu lindern. Rentenkonten haben einen Rückschlag erlitten. Die Lebensmittelpreise sind hoch. Die Leute sind wütend. Unterdessen droht Hunter Biden, dem ältesten Sohn, eine Anklage wegen Steuer- und Waffendelikten. Biden beteuert, dass der Junge nichts Unrechtes getan hat, aber selbst wenn er der Strafverfolgung entgeht, werden die Sünden des Sohnes wahrscheinlich auf dem Vater lasten. Es fühlt sich inzestuös an. Angesichts dieses Szenarios werden die Auswirkungen des sexuellen Übergriffs gegen Trump wahrscheinlich gedämpft sein, was nicht bedeutet, dass dieser jüngste Verlust keine Folgen nach sich ziehen wird.
Im Vorfeld der Urteilsverkündung veröffentlichte das Gericht ein eidesstattliches Video, das zeigte, dass Trump Carroll auf einem Foto nicht identifizieren konnte. Stattdessen verwechselte er sie mit Marla Maples, seiner zweiten Frau. In diesem Moment widerlegte er sein Nicht-Leugnen-Leugnen, dass Carroll nicht sein "Typ" sei. Das Potenzial für ein Herbstdebattendrama über Trumps Gehirnnebel ist hoch. Auch seine geistige Schärfe dürfte nun zum Wahlkampfthema werden. Biden ist nicht der Einzige mit Problemen.
Dennoch hat Trump das berüchtigte Hollywood-Tape bereits überlebt. "Wenn du ein Star bist, lassen sie dich das machen … Du kannst alles machen", gackerte er damals. "Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschießen, und ich würde keine Wähler verlieren, okay", sinnierte Trump vor sieben Jahren. Er hatte definitiv etwas vor. Für viele Republikaner ist Trump ihr Cäsar, ein kultureller Avatar und Krieger, der die Lizenz besitzt, Konventionen zu missachten und sich ihnen zu widersetzen. Umgekehrt ist das republikanische Primärfeld zu zurückhaltend, um Trump zu kommentieren, geschweige denn zu kritisieren oder zu verurteilen. Für Rivalen, die angeblich an Recht und Ordnung festhalten, ist ihr Schweigen sowohl ohrenbetäubend als auch nicht überraschend. Offenbar übersteigt der Zorn der Trump-Loyalisten jeden möglichen politischen Nutzen bei weitem.
Mike Pence wird seinen Ex-Chef wegen der Ereignisse vom 6. Januar immer noch nicht mit voller Wucht angreifen. Der frühere Vizepräsident umgeht das Thema auf Zehenspitzen. Die Tatsache, dass Trump sich von den Aufrufen der Mafia, Pence hängen zu lassen, nicht beirren ließ, bedarf offenbar keiner weiteren Diskussion. Dann ist da noch DeSantis. Disney zu zu verklagen ist eine Sache. Trump zu vernichten ist eine andere Sache. Offensichtlich hat er es versäumt, den Carroll-Prozess zur Förderung seiner eigenen Ambitionen zu nutzen: Er hat seine Frau Casey DeSantis nicht dorthin geschickt, um Gedanken und Gebete für den Kläger oder Melania Trump zu äußern. Die Kameras wären gelaufen und DeSantis hätte dafür gesorgt, dass er chirurgisch ein Skalpell geführt hatte, anstatt grob seine übliche Axt zu schwingen. Stattdessen ging DeSantis in dem vergeblichen Versuch, seine außenpolitischen Kompetenzen auszubauen, ins Ausland.
In London fiel er aufs Gesicht, als er versuchte, die Titanen der britischen Industrie zu umwerben. "Ron DeTedious: DeSantis überwältigt die britischen Wirtschaftschefs", lautete die Schlagzeile bei Politico. "Großbritanniens Industriekapitäne beschimpfen die ‚Niedrigleistung‘ der US-Präsidentschaftskandidatur." DeSantis traf sich auch mit dem bedrängten israelischen Benjamin Netanjahu, der es versäumte, ein Foto von ihrem Treffen zu veröffentlichen. Zu diesem Zeitpunkt erscheint DeSantis‘ erwartete Ankündigung altbacken und überfällig.
Seine angeblichen gesetzgeberischen Leistungen haben ihm den Titel "Ted Cruz des Jahres 2024" eingebracht. Der rechteste Republikaner-Anwärter, sonst kaum etwas. Er bereitet den Republikanern der Wall Street Unbehagen. Wieder einmal ist der Nicht-Trump-Herausforderer eine Fata Morgana. Mit Blick auf die Zukunft ist Trumps Zukunft unklar. Gegen ihn wird weiterhin strafrechtliche Anklage erhoben. Große Geschworenengerichte in Washington und Georgia gehen zügig voran. Unabhängig davon ist ein Verhandlungstermin im Oktober für die vom Staat New York gegen ihn, seine drei älteren Kinder und die Trump Organization eingeleitete zivilrechtliche Betrugsklage in Höhe von 250 Millionen US-Dollar festgelegt. Es ist zu früh für Trump, sich zu freuen, aber er kann definitiv lächeln.
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