Ein ähnlicher Konflikt wird diesmal nicht erwartet. Inzwischen sind solche Auftritte ausländischer Politiker drei Monate vor den Abstimmungen in ihren Ländern nicht mehr erlaubt. Der türkische Präsident muss nach 20 Jahren an der Macht um seine Wiederwahl fürchten. Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und seinem Herausforderer, dem Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu voraus. Dieser tritt als gemeinsamer Kandidat für eine Allianz aus sechs Oppositionsparteien unterschiedlicher Lager an.
Wer die Mehrheit im Parlament mit seinen 600 Abgeordneten gewinnt, ist noch nicht absehbar. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament ist dagegen geschwächt. Bestimmende Themen beim Wahlkampf in der Türkei sind die Wirtschaft und das Erdbeben, bei dem im Februar Zehntausende Menschen ums Leben kamen. Bundesagrarminister Cem Özdemir sieht bei der bevorstehenden Türkei-Wahl die Möglichkeit einer Wende in der türkischen Politik. Ein Sieg des Oppositionskandidaten Kilicdaroglu "würde den Weg für eine Rückkehr zur Demokratie ebnen", sagte der Grünen-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der Ausgang der Wahlen sei "so offen wie nie" in Erdogans rund 20-jähriger Amtszeit als Regierungschef.
Der deutsch-türkische Abgeordnete der Opposition und ehemalige Erdogan-Vertraute Mustafa Yeneroglu appellierte unterdessen an türkische Wähler, in Deutschland für Rechtsstaat und Demokratie in der Türkei zu stimmen. In den ersten zwei Legislaturperioden Erdogans hat die Türkei nach Ansicht Yeneroglus große Fortschritte gemacht, vor allem in Bezug auf die Wirtschaft und demokratische Standards. "Aber insbesondere in den letzten Jahren hat die Türkei sämtliche Entwicklungen, die im ersten Jahrzehnt des Jahrtausends gemacht wurden, komplett zurückgedreht", sagte Yeneroglu. Es tue ihm weh und mache ihn "extrem traurig", dass das nicht bei den türkischen Wählern in Deutschland ankomme.
Bei den vergangen Wahlen 2018 hatte etwa die Hälfte der stimmberechtigten Türken in Deutschland ihr Wahlrecht genutzt. Dabei stimmten rund 65 Prozent für Erdogan. Er schnitt damit in der Bundesrepublik deutlich besser ab als im Gesamtergebnis (rund 53 Prozent).
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