
Unruhige Kinder pressen ihre Gesichter gegen den Maschendraht, während hinter ihnen Familien mit Rucksäcken und kleinen Koffern schieben und drängeln. Die Anspannung ist fast mit Händen zu greifen. Alle warten darauf, dass die Hamas-Behörden über Lautsprecher ihre Namen aufrufen. Hinter jedem dieser Namen steht ein Mensch mit einer Chance, dem fatalen Krieg zu entkommen. Der Krieg hat nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Hamas-kontrollierten Gaza-Stadt bereits mehr als 9000 Palästinenserinnen und Palästinensern das Leben gekostet und den Küstenstreifen für immer verändert.
"Wir verlassen uns auf Gott und hoffen, dass wir rauskommen", sagt Rania Hussein, eine jordanische Bewohnerin von Gaza-Stadt. Atemlos schildert sie das Grauen, vor dem sie auf der Flucht ist: von ganzen palästinensischen Vierteln, die seit dem 7. Oktober zerstört, und Familien, die ausgelöscht wurden. "Wenn das nicht passiert wäre, würden wir Gaza-Stadt nicht verlassen", sagt Hussein.
Nach drei Wochen immer wieder enttäuschter Hoffnungen und qualvoller Verhandlungen zwischen Ägypten, Israel und der Hamas kann – begleitet von zahlreichen Fernsehkameras – die erste Gruppe von Palästinensern das belagerte Gebiet verlassen. 335 Menschen mit ausländischem Pass drängen sich am Mittwoch durch die Grenztore, die meisten von ihnen Palästinenser mit doppelter Staatsbürgerschaft, aber auch einige Ausländerinnen und Ausländer. Hinzu kommen 76 Schwerverletzte, die in ägyptischen Krankenhäusern behandelt werden sollen, sowie einige Angestellte von Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge.
Für viele weitere dauert die Unsicherheit indes an. Unter Hunderten Wartenden an der ägyptischen Grenze herrscht Verwirrung, als die Verlesung der Namensliste endet. Insgesamt sitzen im Gazastreifen noch Tausende Menschen mit ausländischen Pässen fest. "Niemand versteht, wie man auf diese Liste kommen kann oder warum man nicht auf dieser Liste steht", sagt der palästinensische Unternehmer Hammam al-Jasdschi, der zusammen mit seinem vierjährigen Sohn ausreisen will, der die US-Staatsbürgerschaft besitzt.
In dem gesamten Gebiet fallen am Mittwochmorgen Telefon- und Internetverbindungen aus, was die Frustration der Menschen noch verstärkt. "Wir sind heute an die ägyptische Grenze gekommen in der Hoffnung, den Gazastreifen verlassen zu können, aber unsere kanadische Botschaft konnte wegen des schlechten Netzwerks keinen Kontakt aufnehmen", erklärt der kanadische Staatsbürger Asil Schurab. Der 76-jährige palästinensisch-amerikanische Arzt Hamdan Abu Speitan aus Syracuse sagt, er habe keine Ahnung, wie es weitergehe: "Alles, was ich tun kann, ist zu warten und zu beten."
Die Einzelheiten des Abkommens zwischen Israel, Ägypten und der Hamas, das mit Hilfe Katars und der USA ausgehandelt wurde, werden geheim gehalten. Diplomaten haben jedoch angekündigt, in den kommenden Tagen dürften weitere Ausländer über Rafah ausreisen. Wie lange die Ausreisen möglich sein werden, wer dazu wann berechtigt ist und wie über diese Reihenfolge entschieden wird, bleibt aber unklar.
Von den etwa 240 Geiseln, die noch in der Hand der Hamas vermutet werden, wurde niemand freigelassen. Die meisten von ihnen sind israelische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, doch etwa die Hälfte von ihnen hat nach Angaben des israelischen Außenministeriums auch einen ausländischen Pass.
Unter den Menschen am Grenzübergang Rafah macht sich das Gefühl von Ausweglosigkeit breit. "Wir haben wenig Hoffnung, ausreisen und unser Leben retten zu können", sagt Schurab.