
Man kann davon ausgehen, dass die türkische Politik, die Russland besonders schätzt, die Weigerung von Erdogan ist, den Kreml nach dessen umfassender Invasion in der Ukraine zu verbannen, selbst als die Verbündeten der Türkei in der Nato Sanktionen verhängten und ihre Energieabhängigkeit von Russland reduzierten. Der Handel zwischen der Türkei und Russland hat seit Beginn des Krieges in der Ukraine sogar deutlich zugenommen. Aber auch US-Präsident Joe Biden und sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron waren Putin am Sonntag dicht auf den Fersen. Trotz ihrer Abneigung gegenüber Erdogans Annäherung an den Kreml und seiner Beschneidung der Meinungsfreiheit und der demokratischen Normen im eigenen Land während seiner ersten zwei Jahrzehnte als Präsident ist die Türkei für sie ein entscheidender – wenn auch schwieriger und unberechenbarer – Verbündeter des Westens.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Zusammenarbeit Deutschlands mit der Türkei nach dem Wahlsieg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gewürdigt. "Deutschland und die Türkei sind enge Partner und Alliierte - auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sind wir stark miteinander verbunden", schrieb der SPD-Politiker am Abend auf Twitter. Er gratulierte Erdogan zudem zur Wiederwahl. "Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben", so Scholz. Auch andere EU-Spitzenpolitiker gratulierten Erdogan zur Wiederwahl. "Ich freue mich darauf, die EU-Türkei-Beziehung weiter auszubauen", schrieb EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen am Abend auf Twitter. Es sei sowohl für die EU als auch für die Türkei von strategischer Bedeutung, "diese Beziehungen zum Wohle unserer Völker voranzutreiben". Auch EU-Ratspräsident Charles Michel sprach Erdogan seine Glückwünsche aus. "Ich freue mich darauf, wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten, um die EU-Türkei-Beziehungen in den kommenden Jahren zu vertiefen", schrieb er auf Twitter.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beglückwünschte Erdogan ebenfalls zum Wahlsieg. "Ich gratuliere dem Präsidenten der Türkei anlässlich des Siegs bei den Präsidentenwahlen", schrieb Selenskyj bei Twitter. Er zähle auf die weitere Zusammenarbeit im bilateralen Bereich sowie bei der Stärkung der Sicherheit Europas.
Die Türkei ist ein wichtiges Mitglied des Nato-Militärbündnisses und nimmt an allen seinen Einsätzen teil. Erdogan unterhält zwar enge Beziehungen zu Russland, leistet aber auch Militärhilfe für die Ukraine. Er vermittelte bekanntermaßen einen Deal, durch den Russland eine Blockade der ukrainischen Getreidelieferungen beendete und es ihnen ermöglichte, in Teile der Welt zu fließen, die auf sie angewiesen sind. Auch dem Nato-Beitritt des russischen Nachbarn Finnland stimmte er nach langem Zögern offiziell zu. Einst ein leidenschaftlicher Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei, spricht Erdogan dieser Tage davon, "die Türkei wieder großartig zu machen". Für ihn bedeutete das eine unabhängigere Außenpolitik. Im Laufe der Jahre hat er zu all seinen Verbündeten stark transaktionale Beziehungen aufgebaut.
Das Weiße Haus hat keinen Hehl aus seiner Ungeduld gemacht, Erdogan davon zu überzeugen, auch Schwedens Nato-Mitgliedschaft zuzustimmen. Schweden würde der Allianz gegen Russland einen wichtigen Ostseeschutz bieten. Der Westen hofft, dass der schlechte Zustand der türkischen Wirtschaft – und die Wahrscheinlichkeit, dass Erdogan sich auf die Stabilisierung der Finanzen und die Anziehung ausländischer Investitionen konzentrieren muss – sich als Schwäche dafür erweisen könnte, als Gegenleistung auf den Nato-Beitritt Schwedens zu drängen. Die Türkei und Ungarn sind die einzigen Nato-Länder, die noch immer die Mitgliedschaft Stockholms blockieren.
Präsident Macron macht sich unterdessen Sorgen über die Migration in die EU und hofft, so schnell wie möglich Zusicherungen von Präsident Erdogan zu erhalten. Während der Migrationskrise 2015 machten sich mehr als eine Million Flüchtlinge und Asylsuchende – hauptsächlich aus Syrien – in Schlepperbooten auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer in die EU. Brüssel schloss daraufhin einen Deal mit der Türkei ab. Als Gegenleistung für eine große Geldsumme und visumfreie Einreise für Türken in die EU – letztere kamen wegen der Einwände der EU gegen die Inhaftierung von Kritikern und politischen Gegnern durch Erdogan nie vollständig an – würde der türkische Präsident sein Bestes tun, um Migranten ohne Papiere zu verhindern Verlassen der türkischen Gewässer, um den Block zu erreichen.
Doch die steigende Zahl syrischer Flüchtlinge im eigenen Land erwies sich bei den türkischen Wählern als äußerst unpopulär. In diesem Monat versprach jede politische Partei, die an den Parlamentswahlen in der Türkei teilnahm, Maßnahmen zur Lösung der "Migrantenfrage". Die EU befürchtet, dass Flüchtlinge von der Türkei unter Gefährdung ihrer Sicherheit nach Syrien zurückgedrängt werden könnten – und dass die Türkei Menschenschmugglern wieder freien Lauf lässt, um Boote mit Asylbewerbern und anderen Migranten über das Mittelmeer zu schicken.
Auch Brüssel ist in der Defensive, da das EU-Mitglied Griechenland in einen Streit mit Herrn Erdogan über mehrere Inseln in der Ägäis verwickelt ist, während das EU-Mitglied Zypern immer noch brodelt, nachdem Erdogan eine Zwei-Staaten-Lösung (Griechisch und Türkisch) nach jahrzehntelange Spaltungen durch die türkischen Invasion vor fast 50 Jahren gefordert hat. Früher beschrieb der Westen die strategische Bedeutung der Türkei als Brücke zwischen Europa und dem Nahen Osten – doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat den Status der Türkei verändert. Nur wenige erwarten große außenpolitische Überraschungen von Erdogan, wenn er in sein drittes Jahrzehnt an der Macht eintritt. Doch Ankaras strategische Verbündete beobachten die Lage sehr genau.
dp/pcl