
Die Entscheidung für den Einsatz der Hamas-Kämpfer vor knapp einem Monat sei "weise, mutig und zur richtigen Zeit" gekommen, sagte der Anführer der schiitischen Miliz, Hassan Nasrallah, am Freitag in einer TV-Rede. Es war seine erste ausführliche Äußerung zum Krieg zwischen Israel und der Hamas, viele Menschen verfolgten die Aussagen bei Versammlungen in der libanesischen Hauptstadt Beirut und in der iranischen Hauptstadt Teheran. Außenministerin Annalena Baerbock und ihr US-Kollege Antony Blinken ermahnten die Hisbollah, von einem größeren Angriff abzusehen. Deren Chef sprach indirekte Drohungen gegen Israel aus – worauf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seinerseits scharf reagierte.
"Ein solcher Fehler wird sehr kostspielig sein", meinte der israelische Regierungschef zu einer möglichen Eskalation durch die Hisbollah. "Sie zahlen einen unvorstellbaren Preis. Ich sage unseren Feinden noch einmal: Täuschen Sie sich nicht über uns." Nasrallahs Einschätzung zufolge war hingegen schon in den ersten Stunden der Attacke aus dem Gazastreifen vor einigen Wochen klar, dass der "Feind (Israel) abgelenkt, verloren und erstaunt" gewesen sei. Damit sei eine "neue historische Phase des Konflikts" im Nahen Osten eingeläutet worden. Nach seinem Wissen soll die Hamas den Angriff geplant und ausgeführt haben, ohne Verbündete vorab einzubeziehen: Die Operation "Al-Aksa-Flut war zu hundert Prozent palästinensisch", so der Generalsekretär der Hisbollah. "Die Tatsache, dass niemand davon wusste, beweist, dass diese Schlacht ausschließlich palästinensischer Natur ist." Laut israelischen Angaben starben dabei mehr als 1400 Menschen.
Hamas-Mitglieder überfielen unter anderem mehrere Kibbuzim, nahmen zahlreiche Geiseln und richteten ein Blutbad auf einem Musikfestival an. Israels Reaktion mit massiven Militärschlägen, bei denen auch viele Zivilisten starben, löste international jedoch ebenfalls teils scharfe Kritik aus. Nach Darstellung des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden bislang über 9200 Palästinenser getötet.
Beobachter hatten vor der mit Spannung erwarteten Ansprache damit gerechnet, dass Nasrallahs Auftritt einen Wendepunkt im derzeit wieder eskalierenden Nahostkonflikt markieren könnte. Nach den Massakern der Hamas im Süden Israels und dem Beginn des israelischen Gegenschlags in Gaza kam es auch in der Grenzregion zum nördlichen Nachbarn Libanon zu Raketenbeschuss, die Hisbollah bekannte sich zu mehreren Attacken auf israelisches Territorium. Es gab zuletzt fast täglich Gefechte und bereits etliche Tote auf beiden Seiten.
Nasrallah warnte vor einer möglichen Ausweitung der Kampfhandlungen: Es bestehe nach seinem Eindruck eine "realistische Möglichkeit", dass sich die "libanesische Front in eine große Schlacht" verwandele. "Manche mögen das, was an unserer Front passiert, als gemäßigt empfinden", sagte er. "Aber wir werden uns nicht damit zufrieden geben."
Der Hisbollah-Chef drohte indirekt mit weiteren Militäraktionen: "Alle Optionen sind auf dem Tisch. Alle Möglichkeiten an unseren libanesischen Fronten sind in Reichweite." Die künftige Entwicklung hänge ab vom Verlauf des Kriegs im Gazastreifen und von Israels Verhalten gegenüber dem Libanon. Im Prinzip sei seine Organisation schon in den Konflikt eingebunden. "Einige sagen, ich werde verkünden, dass wir in die Schlacht eingetreten sind", sagte Nasrallah. "Wir sind bereits am 8. Oktober in die Schlacht eingetreten."
Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich während einer Reise nach Armenien zu den jüngsten Entwicklungen. Auch die Menschen im Libanon wollten nur in Frieden leben und keine weitere Eskalation in der Region, sagte die Grünen-Politikerin nach einem Treffen mit ihrem armenischen Kollegen Ararat Mirsojan in Eriwan. "Deswegen ist es so unglaublich wichtig, dass alle Akteure gemeinsam dafür sorgen, dass ein Flächenbrand in der Region verhindert wird." Mit Blick auf das Leid der Bevölkerung im Gazastreifen verlangte Baerbock eine Umsetzung der auch von der EU geforderten humanitären Pausen, um die Versorgung der Menschen zu gewährleisten.
US-Außenminister Antony Blinken war am Freitag erneut in Israel unterwegs, um Gespräche darüber zu führen, wie der Konflikt eingedämmt werden könnte. "Wir setzen uns dafür ein, Aggressionen von jedweder Seite abzuschrecken", sagte er und verwies dabei auch auf die Stationierung mehrerer amerikanischer Kriegsschiffe im östlichen Mittelmeer. "Wir müssen weiterhin eine Eskalation dieses Konflikts verhindern." Ob die USA im Fall der Eröffnung einer zweiten Front auch selbst eingreifen werden, sagte Blinken nicht. Er betonte: Solange es die Vereinigten Staaten gebe, werde Israel nicht allein sein. Israel müsse jedoch auf einen besseren Schutz palästinensischer Zivilisten achten.
Der militante Arm der Hisbollah – als schiitische Organisation vom Iran unterstützt und mitfinanziert – hatte bereits bei früheren Auseinandersetzungen in der Region eine zentrale Rolle gespielt. Während des zweiten Libanon-Kriegs im Sommer 2006 etwa kamen bei Gefechten mehr als 1500 Zivilisten ums Leben. Nachdem zwei israelische Soldaten entführt worden waren, hatte Israel mit Luftschlägen und einem Einsatz der Marine reagiert und schließlich auch mit Bodentruppen die Grenze überquert. Die Befürchtungen waren groß, Nasrallah könnte angesichts der aktuellen Lage in den Palästinensergebieten nun die Kämpfer offiziell zu den Waffen rufen oder einen stärkeren Eintritt in den aktuellen Krieg ankündigen – mit dem Risiko einer Ausweitung auf den gesamten Nahen Osten. Die Miliz unterstützt zudem Machthaber Baschar al-Assad im anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien.
In seiner Rede warf Nasrallah den USA vor, die alleinige Verantwortung für den Gaza-Krieg zu tragen – Israel sei lediglich ein "ausführendes Instrument" für deren Interessen. Der Hisbollah-Chef bezeichnete die Vereinigten Staaten als "großen Teufel", ähnliche Zuschreibungen sind auch immer wieder aus Teheran zu hören. Nasrallah sieht als aktuelle Kriegsziele ein "Ende der Aggression" Israels und einen Sieg für den "palästinensischen Widerstand" sowie für die im Gazastreifen herrschende Hamas. Dies sei auch "im nationalen Interesse des Libanon".
Israels Armee hat laut eigenen Angaben vom Freitag erst kürzlich auf erneuten Beschuss im Grenzgebiet mit Artilleriefeuer auf einen Ort im Libanon reagiert. Am Donnerstagabend griff sie militärische Stellungen der Hisbollah an. Ziele seien unter anderem Kommando- und Kontrollzentren sowie Waffenlager gewesen, hieß es. Die Hisbollah bekannte sich zu 19 Angriffen gegen israelische Posten in Grenznähe. Die Schiitenorganisation hatte zuvor auch erklärt, ein israelisches "Spionagesystem" getroffen zu haben. Sie selbst meldete seit dem Beginn der jüngsten Konfrontationen mindestens 55 Tote in den eigenen Reihen. Auf israelischer Seite wurden im Norden des Landes nach Militärangaben sieben Menschen getötet.
Die Hisbollah hat Verbindungen zur Hamas in Gaza. Im Hintergrund steht als ideologischer Unterstützer, Waffenlieferant und Finanzier vor allem der Iran, der sich als Anführer einer "Achse des Widerstands" gegen Israels Politik im Nahen Osten begreift. Die Staatsführung in Teheran hatte in den Wochen seit Beginn des Gaza-Kriegs dem jüdischen Staat immer wieder gedroht – eine Linie, der auch die Hisbollah folgt. Zugleich hat sie Zehntausende Anhänger, mit denen sie den Süden an der Grenze zu Israel, von Schiiten bewohnte Viertel von Beirut sowie die Bekaa-Ebene im Norden des Landes kontrolliert. In der Bevölkerung gibt es allerdings auch Widerstand: Etliche Libanesinnen und Libanesen kritisieren das riskante Verhalten der Hisbollah und haben Angst vor einer möglichen Kriegsbeteiligung ihres Landes.