
Abgesehen von den intensiven Sicherheitsvorkehrungen im Zentrum der Hauptstadt hofft die Bundesregierung, dass der Besuch von Erdogan ohne große Zwischenfälle verlaufen wird. Denn dieser Besuch konnte nicht zu einem ungünstigsten Zeitpunkt kommen.Die Beziehungen zwischen Präsident Erdogan und der Bundesregierung sind seit Jahren schwierig, es kommt regelmäßig zu Streitigkeiten zwischen Berlin und Ankara. Wenn deutsche Regierungssprecher von einem "schwierigen Partner" sprechen, wissen man, dass sie Erdogan meinen.
Doch die Gräueltaten der Hamas in Israel am 7. Oktober und die anschließenden Vergeltungsmaßnahmen Israels in Gaza haben dazu geführt, dass Deutschland und die Türkei auf entgegengesetzten Seiten des Konflikts stehen. Im vergangenen Monat ist der türkische Präsident in seiner Kritik an Israel immer schärfer geworden. Er weigerte sich, die Morde und Geiselnahmen der Hamas zu verurteilen und bezeichnete die Gruppe als "Befreier". Die Hamas wird von westlichen Verbündeten, darunter auch Deutschland, als Terrororganisation eingestuft. Er scheint auch die Existenz des jüdischen Staates in Frage zu stellen, indem er sagt, dass Israels "eigener Faschismus" seine Legitimität untergräbt.
Für Deutschland bedeutet die historische Schuld der Nazis am Holocaust, dass die Unterstützung des Staates Israel nicht verhandelbar und ein zentraler Eckpfeiler der Berliner Außenpolitik ist. Als Scholz Anfang dieser Woche in einer Pressekonferenz nach den Äußerungen von Präsident Erdogan gefragt wurde, nannte er sie "absurd". Sowohl Scholz als auch die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel haben die Sicherheit Israels wiederholt als "Staatsräson" bezeichnet, einen vagen Begriff, mit dem die Bundesregierung die Idee einer unerschütterlichen deutschen Unterstützung für Israel zum Ausdruck bringen.
Aber da die israelischen Angriffe auf Gaza immer intensiver werden und die Zahl der Todesopfer steigt, gerät dieses Prinzip unter Druck. Nach dem ersten Schock über die Hamas-Angriffe thematisieren die Mainstream-Medien zunehmend auch das humanitäre Leid in Gaza, was zu wachsender Verunsicherung über das Vorgehen Israels führt. Auf den Straßen wächst die Empörung über das Vorgehen Israels. Es steht zu befürchen, dass Äußerungen von Präsident Erdogan während seines Besuchs zum Konflikt die Spannungen anheizen könnten.
Aber Deutschland und die Türkei brauchen einander. Deutschland ist ein wichtiger Handelspartner der Türkei. Es ist auch die Heimat der weltweit größten türkischen Diaspora-Gemeinschaft und ein Wahlkampfgebiet für Präsident Erdogan. In Deutschland leben rund drei Millionen Menschen türkischer Herkunft, die Hälfte von ihnen ist noch wahlberechtigt. Im Mai hat eine Mehrheit der türkischen Wähler in Deutschland ihr Kreuz hinter Erdogans gesetzt.
Berlin braucht unterdessen türkische Hilfe, um die Migration aus dem Nahen Osten zu kontrollieren. Scholz hofft auf eine Wiederbelebung eines Flüchtlingspakts mit der Türkei zur Rückführung von Asylbewerbern und wünscht sich mehr türkische Unterstützung für den Westen im russischen Krieg in der Ukraine. Hinter verschlossenen Türen werden diese Themen am Freitag besprochen. Aber die Nervosität bleibt, was Erdogan in der Öffentlichkeit sagen könnte. Im Mai, nach der Wiederwahl von Erdogan zum türkischen Präsidenten, lud Scholz nach Berlin ein. Wahrscheinlich wünscht er sich jetzt, er hätte es nicht getan.