
Während die Bundesregierung klar an der Seite Israels steht, präsentiert sich Erdogan als einer der schärfsten Kritiker der Regierung in Jerusalem – und als einer der prominentesten Fürsprecher der Hamas, die er nicht als Terror-, sondern als Befreiungsorganisation bezeichnet. Israel hat er "Faschismus" und "Staatsterror" vorgeworfen, westlichen Staaten hat er eine Mitschuld an den "Massakern" im Gazastreifen gegeben. Zum Eklat käme es, würde Erdogan einen gemeinsamen Auftritt mit Scholz in Berlin dazu nutzen, Israel anzugreifen und die Hamas zu verteidigen.
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas hatte im August vergangenen Jahres bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz in Berlin Israel einen "Holocaust" an den Palästinensern vorgeworfen. Der Kanzler hatte dabei keine gute Figur gemacht: Er ließ die Äußerung zunächst unwidersprochen stehen und verurteilte sie erst später. Erdogans Vorwürfe an die Adresse Israels hat Scholz nun schon vor dem Besuch als "absurd" bezeichnet. Der Kanzler kündigte an, mit dem türkischen Gast Klartext in dieser Frage zu sprechen.
Erdogan, Oberbefehlshaber der zweitgrößten Nato-Armee, hat im aktuellen Konflikt eine Führungsrolle in der islamischen Welt eingenommen. Das geschieht nicht zum ersten Mal, auch bei den Protesten gegen die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch US-Präsident Donald Trump 2017 schwang er sich zu einem der Wortführer auf. Es ist eine Rolle, in der er sich wohlfühlt und die ihm aus Sicht seiner islamisch-konservativen Anhänger auf den Leib geschneidert ist.
Beim Sondergipfel der Organisation der Islamischen Konferenz und der Arabischen Liga am vergangenen Wochenende in Riad profilierte Erdogan sich denn auch mit klaren Worten gegen Israel – zum Terrorangriff der Hamas ließ er diese Deutlichkeit vermissen. Israel warf er "eine in der Geschichte noch nicht dagewesene Barbarei" vor. Weiter sagte er: "Die israelische Regierung rächt sich für den Vorfall vom 7. Oktober, den die meisten von uns nicht gutheißen, an Babys und unschuldigen palästinensischen Kindern und Frauen im Gazastreifen."
Erdogan ist seit jeher ein Meister darin, außenpolitische Themen für innenpolitische Zwecke zu nutzen. Ende März stehen in der Türkei Kommunalwahlen an, Erdogan will die Hauptstadt Ankara und die Wirtschaftsmetropole Istanbul wieder für seine AKP zurückgewinnen.
In weiten Teilen der Bevölkerung dürfte Erdogan mit seiner Kritik an Israel punkten: Nach einer Umfrage des Instituts Metropoll vom vergangenen Monat sprechen sich nur 3 Prozent dafür aus, dass seine Regierung Israel unterstützt. Eine Unterstützung der Hamas wünschen sich allerdings auch nur 11,3 Prozent, eine Unterstützung der palästinensischen Sache bei einer Distanzierung von der Hamas 18,1 Prozent. Die größte Gruppe (34,5 Prozent) ist dafür, dass die Regierung neutral bleibt. Mehr als ein Viertel der Befragten wünscht sich eine Vermittlerrolle der Türkei – diese Chance dürfte Erdogan mit seiner überdeutlichen Positionierung verwirkt haben.
Das Nahostthema hilft Erdogan auch, von den wirtschaftlichen Problemen der Türkei abzulenken, wo die offizielle Inflationsrate bei mehr als 60 Prozent liegt. Für ihn geht es allerdings nicht nur um Wählerstimmen, er engagiert sich seit Langem für die Sache der Palästinenser, auch seine Sympathien für die Hamas sind längst bekannt. Im Mai 2018 verglich er das gewaltsame Vorgehen Israels im Gazastreifen mit Nazi-Methoden und sprach von einem "Genozid". Benjamin Netanjahu – damals wie heute Ministerpräsident Israels – erwiderte: "Erdogan ist einer der größten Unterstützer der Hamas, daher gibt es keinen Zweifel, dass er sich gut auskennt mit Terror und Massakern."
Dabei kann Erdogan durchaus Pragmatiker sein. Vor Beginn des aktuellen Gazakrieges hatte er sich für eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel eingesetzt. Am Rande der UN-Vollversammlung im September in New York war er mit Netanjahu zusammengetroffen, beide kündigten an, einander zu besuchen. Netanjahu war eigentlich zu Beginn des Monats in der Türkei erwartet worden. Sogar konkrete Projekte waren bereits vereinbart, nach Erdogans Angaben planten die Türkei und Israel unter anderem gemeinsame Energiebohrungen im östlichen Mittelmeer.
Pragmatismus hat Erdogan auch in den Beziehungen zu Deutschland an den Tag gelegt – beide Länder sind schon wegen der rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in der Bundesrepublik untrennbar miteinander verwoben. Als der Bundestag im Jahr 2016 die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord verurteilte, verschlechterte sich das Verhältnis dramatisch. Die Inhaftierung deutscher Staatsbürger in der Türkei im Jahr darauf ließ die Krise eskalieren. Ebenfalls 2017 untersagte die Bundesregierung Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker, eine auf Erdogan gemünzte Maßnahme.
Erdogan wiederum griff damals Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Nazi-Vergleichen an. Dann schwenkte er um und setzte sich für eine Verbesserung der Beziehungen ein – wirtschaftlicher Druck dürfte ein gewichtiger Grund für den Kurswechsel gewesen sein. Vor einem Staatsbesuch in Deutschland im September 2018 wünschte er sich das "vollständige Ende" der Spannungen.
Der Gazakrieg hat diese Spannungen neu angefacht. Der türkische Vizepräsident Cevdet Yilmaz erwartet, dass die Lage im Nahen Osten das dominierende Thema beim bevorstehenden Besuch sein wird, und er verteidigt die Haltung seiner Regierung. "Tausende Kinder werden getötet, Krankenhäuser und Krankenwagen werden bombardiert, zivile Gebiete werden verwüstet, und es gibt keine Reaktion darauf", kritisierte er bei einem Treffen mit deutschsprachigen Journalisten in der vergangenen Woche in Ankara. "Das ist völlig inakzeptabel."
Yilmaz sagte, dass manche Staaten sich nicht einmal für eine Waffenruhe einsetzten, sei "eine Schande für diese Länder". Die Bundesregierung lehnt es ab, eine sofortige Waffenruhe zu fordern. Der Vizepräsident kritisierte auch das Verbot von manchen pro-palästinensischen Demonstrationen in europäischen Staaten. Yilmaz bemängelte, Koranverbrennungen wie zuletzt in Schweden würden unter Verweis auf die Meinungsfreiheit erlaubt, während friedliche Proteste gegen das israelische Vorgehen untersagt würden. "Das halte ich für eine Gefahr für die Zukunft Europas." Kritik an der israelischen Regierung dürfe nicht mit Antisemitismus verwechselt werden.
Aus Sicht von Kritikern trifft der Antisemitismus-Vorwurf bei Erdogan allerdings durchaus zu. Entsprechend äußerte sich etwa der SPD-Außenpolitiker Michael Roth, der den Besuch dennoch verteidigt. "Er ist Staatsoberhaupt eines für uns und für Europa wichtigen Landes", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags im Deutschlandfunk.
Auch die CDU-Abgeordnete Serap Güler hat Bauchschmerzen bei der Visite, hält sie aber für notwendig. "Trotz der aktuellen Krise und trotz der für uns inakzeptablen Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten zum Krieg in Israel bleibt die Türkei für uns geostrategisch ein wichtiger Partner", sagte Güler. "Für uns muss klar sein: Die Türkei ist nicht Erdogan allein, es wird eine Zeit nach ihm geben, doch auch diese Bundesregierung scheint weder für eine Zeit mit ihm noch für eine nach ihm eine Strategie im Umgang zu haben."
Besonders herzlich dürfte die Atmosphäre nicht sein, wenn Erdogan heute erst von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dann von Scholz empfangen wird – es ist sein erster Besuch in Deutschland seit 2020. Dass er trotz des Überfalls auf die Ukraine weiterhin gute Kontakte zum russischen Präsidenten Wladimir Putin pflegt, wird im Westen misstrauisch beäugt. Erdogan, der vor mehr als 20 Jahren als Reformer antrat, steht auch wegen seines zunehmend autoritären Regierungsstils in der Türkei in der Kritik. Von einer EU-Mitgliedschaft ist das Land heute weiter entfernt denn je – nachdem es seit fast einem Vierteljahrhundert Beitrittskandidat ist.

Registrierung und Gründung einer maltesischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Dass für Europa in wichtigen Fragen dennoch kein Weg an Erdogan vorbeiführt, hat er in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen. Ihm gelingt es dabei regelmäßig, die Europäer unter Druck zu setzen. In der Flüchtlingskrise etwa, die das Migrationsabkommen der EU mit der Türkei deutlich entschärfte. Die Türkei nahm Millionen Menschen auf, zugleich drohte Erdogan aber immer wieder damit, die Grenzen in die EU zu öffnen. Oder bei der Nord-Erweiterung der Nato, die Erdogan im Fall Schwedens unter anderem deswegen blockiert hat, um Stockholm zu einem schärferen Vorgehen gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu zwingen.
Beim Arbeitsbesuch Erdogans in Berlin dürfte es nun neben dem Gazakrieg unter anderem um eine Wiederbelebung des Migrationsabkommens, um Visaliberalisierung – also um einfachere Einreisen von Türken nach Deutschland – und um eine Ausweitung der Zollunion gehen. "Natürlich erwarten wir bessere Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei", sagte Vizepräsident Yilmaz mit Blick auf Erdogans Gespräche in Berlin. Man habe in gewissen Fragen Differenzen, in anderen teile man aber Interessen und Werte. Scholz dürfte in jedem Fall erleichtert sein, wenn der schwierige Gast nach dem gemeinsamen Abendessen im Kanzleramt wieder im Präsidentenflieger nach Ankara sitzt – vorzugsweise, ohne dass es zuvor zu einem Eklat gekommen ist.