Sollte Lukaschenkos Darstellung stimmen - wie er in dem Konflikt zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Söldnerchef Jewgeni Prigoschin vermittelte -, dann sei er ein politisch versierter Akteur, der in der Lage sei, in den oberen Rängen der russischen Politik Einfluss auszuüben, hieß es. Lukaschenko, der ein enger Verbündeter Putins ist, hatte nach eigenen Angaben am Samstag in dem kurzzeitigen Aufstand der Wagner-Söldnereinheiten zwischen Putin und Prigoschin vermittelt und diesen zum Aufgeben überredet. Im Gegenzug sicherte der Kreml Prigoschin Straffreiheit zu. Den Wagner-Kämpfern hingegen bot Putin an, in Russlands Streitkräften zu dienen. Sie könnten aber auf eigenen Wunsch - ebenso wie Prigoschin - nach Belarus ausreisen oder nach Hause gehen, sagte Putin.
Prigoschin, dessen Söldner monatelang neben der regulären russischen Armee in der Ukraine gekämpft hatten, hatte am Samstag seinen lange schwelenden Machtkampf mit der russischen Militärführung eskalieren lassen. Die Wagner-Kämpfer besetzten erst die südrussische Stadt Rostow am Don und marschierten dann weiter in Richtung Moskau. Ihr praktisch ungehinderter Vormarsch stoppte erst gut 200 Kilometer vor der russischen Hauptstadt. Lukaschenko habe interveniert, um wahrscheinlich zum Teil Putin und anderen hochrangigen Kremlbeamten zu signalisieren, dass er in der Lage sei, erfolgreich und unabhängig innerhalb der russischen Politik zu agieren, hieß es in der ISW-Analyse weiter. Seine Prahlerei über seine Fähigkeit, "Machtmakler in Putins engstem Kreis zu manipulieren", sei für den russischen Präsidenten demütigend gewesen.
Der Kreml hat einen US-Medienbericht als "Spekulation" zurückgewiesen, wonach Russlands Vize-Generalstabschef Sergej Surowikin von dem Aufstandsplan des Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin vorab gewusst haben soll. "Es gibt jetzt um diese Ereignisse herum viele unterschiedliche Spekulationen und Tratsch", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen. "Ich denke, das ist ein Beispiel dafür." Die Armee und die Bevölkerung hätten während des Aufstands "alle beim Präsidenten (Wladimir Putin) gestanden", sagte Peskow.
Zuvor hatte die US-Zeitung "New York Times" unter Berufung auf US-Sicherheitskreise berichtet, dass Surowikin im Vorfeld von dem Aufstand der Wagner-Gruppe gewusst habe. US-Beamte wollten nun herausfinden, ob der Armeegeneral bei der Planung geholfen haben könnte. Die Zeitung schreibt zudem, dass es nach Informationen von US-Geheimdiensten Anzeichen dafür gebe, dass auch andere russische Generäle von Prigoschins Plänen gewusst haben könnten. US-Beamte sind laut dem Bericht der Meinung, Prigoschin hätte seinen Aufstand nicht gestartet, wenn er nicht geglaubt hätte, dass ihm andere zu Hilfe kommen würden.
Surowikin gilt als Verbündeter Prigoschins, er hatte sich aber noch in der Nacht zum Samstag auf die Seite des Machtapparats in Moskau geschlagen. In einer Videobotschaft hatte Surowikin Prigoschin dazu aufgerufen, den Machtkampf zu beenden. Putin könnte Surowikin demnach behalten, sollte der Präsident zu dem Schluss kommen, dass Surowikin nur von den Plänen wusste, Prigoschin aber nicht geholfen habe. Hochrangige US-amerikanische Beamte vermuteten zudem, dass eine Allianz zwischen Surowikin und Prigoschin erklären könnte, warum Prigoschin nach der Revolte noch am Leben sei, schrieb die "New York Times" weiter.
Wagner-Chef Prigoschin hatte am Samstag zwischenzeitlich unter anderem die südrussische Stadt Rostow am Don besetzt und ließ seine Kämpfer dann Richtung Moskau marschieren. Rund 200 Kilometer vor der russischen Hauptstadt gab er überraschend auf. Prigoschin ist nach Angaben Lukaschenkos inzwischen in Belarus eingetroffen.
Die Nato-Mitglieder Polen, Lettland und Litauen haben gewarnt, dass Wagners Ankunft in Belarus für sie als Nachbarn Ärger bedeuten könnte. Ein litauischer Präsidentenberater sagte, die Söldner seien gefährlich, da sie an Sabotage- und Infiltrationsoperationen teilnehmen könnten. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda sagte auf einer Pressekonferenz, dass die Nachbarländer einer "noch größeren Gefahr der Instabilität" ausgesetzt wären, wenn Wagner seine "Serienmörder" in Belarus einsetzen würde. Nato-Chef Jens Stoltenberg sagte, das Bündnis sei bereit, sich gegen jede Bedrohung aus "Moskau oder Minsk" zu verteidigen, und werde sich darauf einigen, seine Verteidigungsanlagen nächste Woche bei einem Treffen in Litauen zu stärken – mit besonderem Schwerpunkt auf den an Weißrussland angrenzenden Ländern. "Wir haben eine klare Botschaft an Moskau und Minsk gesendet, dass die Nato da ist, um jeden Verbündeten und jeden Zentimeter des Nato-Territoriums zu schützen", sagte er.
Russland hat in den letzten Wochen taktische Atomwaffen nach Belarus verlegt. Präsident Putin sagte, sie würden nur dann eingesetzt, wenn russisches Territorium bedroht sei. Laut Katia Glod vom European Leadership Network sei auch die belarussische öffentliche Meinung sehr beunruhigt. "Offensichtlich wollen sie in Belarus keinen Verbrecher wie Prigoschin haben", sagte sie. Lukaschenko sagte lediglich, dass die Wagner-Anhänger dem belarussischen Militär helfen könnten, indem sie ihre Erfahrungen mit Taktiken und Waffen weitergaben.
Die im Exil lebende belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja glaubt nicht, dass Prigoschin nach seinem gescheiterten Aufstand in Russland nun eine sichere Zuflucht in ihrer Heimat gefunden hat. Prigoschin habe Kremlchef Wladimir Putin "gedemütigt" und dieser habe anschließend klargestellt, dass er Verrätern nicht vergebe, sagte sie. Wenn Putin dem belarussischen Machthaber Lukaschenko die Order gebe, Prigoschin loszuwerden, dann werde er dies tun, sagte sie. Die Präsenz Prigoschins in Belarus stufte Tichanowskaja als Sicherheitsrisiko für ihr Land ein, ebenso wie die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus. Dies sollte dem Westen Sorgen bereiten und breiter debattiert werden, sagte sie. Tichanowskaja hatte 2020 gegen Lukaschenko kandidiert. Inzwischen lebt sie in Litauen im Exil. In ihrer Heimat wurde sie zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, eine kleine Gruppe von Wagner-Kämpfern in der Ostukraine stelle keine Bedrohung dar. "Die Wagner-Anhänger sind auf dem vorübergehend besetzten Gebiet der Ukraine präsent. Sie sind und waren in der Region Luhansk anwesend. Das ist die Wahrheit", sagte Selenskyj während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem polnischen und dem litauischen Präsidenten am Mittwoch in Kiew und fügte hinzu: "Viele von ihnen wurden von unseren Verteidigungskräften eliminiert – über 20.000 von ihnen." Selenskyj sagte, er glaube, dass auch die Wagner-Kämpfer, die sich auf dem Territorium Belarus aufhalten, keine Bedrohung darstellten, da er der Meinung sei, dass "ihre Truppen nicht zahlreich wären". Selenskyj sagte nach Berichten seiner Kommandeure, die Lage im Norden der Ukraine habe sich "nicht verändert und sei unter Kontrolle, unabhängig von der Präsenz der Wagner-Anhänger in Belarus".
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