
Weil er 2013 an den Massenprotesten im Gezi-Park teilgenommen hatte, verurteilte ein Gericht Atalay im vergangenen Jahr zu 18 Jahren Haft wegen versuchten Umsturzes. Dennoch konnte er im Mai kandidieren, denn das Urteil war damals noch nicht rechtskräftig. Das oberste Berufungsgericht Yargitay bestätigte im September die Entscheidung und lehnte einen Antrag Atalays auf Freilassung ab. Der rief daraufhin das Verfassungsgericht an – und hatte Erfolg: Die Verfassungsrichter ordneten seine Freilassung an. Doch jetzt schaltete sich erneut der Yargitay ein: Die Richter des Appellationsgerichts wiesen die Entscheidung des Verfassungsgerichts als "verfassungswidrig" zurück und stellten am Mittwoch Strafantrag gegen ihre dortigen Kollegen.
Der Vorgang ist selbst in der Türkei, deren Justiz in den vergangenen Jahren für unberechenbare Entscheidungen berüchtigt war, beispiellos. Atalays Anwalt Özgür Urfa wirft den Richtern des Kassationshofes vor, sie hätten "eine Straftat" begangen, als sie sich über das Urteil des Verfassungsgerichts hinwegsetzten. Der türkische Oppositionsführer Özgür Özel spricht sogar von einem "Justizputsch".
Der Konflikt zeigt, wie weit die Gerichtsbarkeit unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan politisiert wurde. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 leitete er umfangreiche "Säuberungen" in der Justiz ein. Tausende unabhängige oder als regierungskritisch geltende Richter und Staatsanwälte wurden entlassen, Schlüsselposten mit Erdogan-Gefolgsleuten besetzt. Nur das Verfassungsgericht hat Erdogan noch nicht gezähmt. Seit seinem Amtsantritt als Premierminister vor über 20 Jahren liegt er im Clinch mit den Verfassungsrichtern.
Um ein Haar hätte das Verfassungsgericht Erdogans politische Karriere sogar beendet. 2008 berieten die Richter darüber, ob die Erdogan-Partei AKP wegen "islamistischer Umtriebe" verboten werden müsse. Sie entging der Zwangsauflösung nur ganz knapp: Fünf Verfassungsrichter stimmten für ein Verbot, sechs dagegen. Immer wieder piesackt das Verfassungsgericht Erdogan mit unbequemen Urteilen. So auch jetzt. Der Staatschef kommentierte dies auf dem Rückflug von einer Auslandsreise vor Journalisten so: "Leider hat das Verfassungsgericht viele Fehler in Folge gemacht, was mich betrübt."
Die Europäische Kommission hatte erst in dieser Woche in ihrem jüngsten Türkei-Bericht der Regierung in Ankara "ernste Rückschritte" bei den demokratischen Standards, der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und der Unabhängigkeit der Justiz attestiert. Mit wachsender Sorge sehen viele in der Türkei jetzt der von Erdogan angekündigten Verfassungsreform entgegen. Der Staatschef hat sich in der Vergangenheit mehrfach dafür ausgesprochen, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts einzuschränken. Erdogans ultranationalistischer Koalitionspartner Devlet Bahceli geht noch weiter: Er fordert, das Verfassungsgericht ersatzlos abzuschaffen.