
"Weckruf Freiheit" haben sie über ihren Brief geschrieben, ein Ausrufezeichen dahinter. Die Ampel schade der FDP, heißt es darin. Es drohe ihr der Niedergang. Wirtschaft, Energie, Bürokratie, Migration sind die Stichworte für die Unzufriedenheit. "Die FDP muss ihre Koalitionspartner dringend überdenken.". Es lasse sich so übersetzen, sagt Mitinitiator Alexander-Georg Rackow, Jurist und ehemaliger Bild-Zeitungs-Journalist: raus aus der Koalition im Bund.
Für so einen kleinen Haufen macht der Brief einigen Ärger. Von einer "Null-Bock-Haltung", schimpft eine FDP-Politikerin und sagt, sie wolle gestalten und nicht anderen beim Gestalten zuschauen. "Die Welt brennt, aber die FDP ist dann mal weg", so fasst ein anderer Liberalen-Spitzenpolitiker spöttisch das Anliegen der Briefeschreiber zusammen.
Offen äußern will sich kaum einer oder eine. Man will die Sache nicht durch Zitate von Spitzenpolitikern größer machen. Parteichef Christian Lindner hält sich zurück. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagt, es gehe um "interne Prozesse, die wir auch intern behandeln". Und natürlich nehme man jede Stimme in der FDP sehr ernst.
Die Sache hat da schon Fahrt aufgenommen. Die "Bild"-Zeitung hat über den Brief berichtet. Die ARD hat das Thema aufgegriffen und auch der Spiegel. Die Berichterstattung fällt deutlich größer aus als die über Kongress der Jungliberalen mit ein paar 100 Delegierten, auf dem die Vorsitzende Franziska Brandmann auf einen neuen Kurs der Ampel drängt – aber eben nicht das Ende der Koalition.
Der Thüringer FDP-Chef Thomas Kemmerich bezeichnet den Aufruf als "mutig". Aber er gilt in der Bundespartei als abgemeldet, seit er sich mit Hilfe der AfD kurzzeitig zum Ministerpräsident hatte wählen lassen. Aber auch er schließt sich dem Aufruf nicht an.
Sonst bleibt es vernehmbar ruhig. Sogar der nordrhein-westfälische Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler schweigt. Er war einer der lautesten Kämpfer gegen das Heizungsgesetz, nach den Niederlagen der FDP bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern im Oktober gab er zu Protokoll, die Ampel hänge wie ein "Mühlstein" um den Hals der FDP.
Einzig Wolfgang Kubicki spricht. Der Bundestagsvizepräsident kommt aus Schleswig-Holstein, so wie viele der Briefeschreiber. Er hat einen Hang zu schnellen, gerne auch derben Sprüchen. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat er schon mal mit Russlands Präsident Wladimir Putin verglichen. Kubicki personifizierte den Ampel-Frust der FDP. Jetzt ist er der, der die richtig Frustrierten besänftigen soll. Am Samstag tritt er bei einem Kreisparteitag der Segeberger FDP auf, allein neun der Briefeschreiber kommen aus dem Kreisverband, einige sind erst 2021 eingetreten, im Bundestagswahljahr. Mit zwei der Segeberger Neu-Mitglieder und Briefeschreiber, Axel Kamann und Carina Smolik-Fischer, hat sich Kubicki zuvor schon in einem "Zeit"-Interview gestritten.
Die Ampel, sagten die beiden, sei ein Kasperletheater, das nur rot-grüne Ideen umsetze, mit der FDP als Rolle des Katastrophenverhinderers. "Nur wenn wir jetzt aussteigen, haben wir noch eine zweite Chance. Sonst gehen wir unter", verkündete Kamann. Und im Übrigen hätte die FDP das Wirtschaftsministerium besetzen müssen.
"Sie wollen sich aus der Verantwortung stehlen", entgegnete Kubicki. Er ist seit über 50 Jahren in der FDP und findet, der Brief sei "ein Ausdruck von Schwäche". "Wir müssen lauter und sichtbarer werden – und nicht weinerlich erklären, wir hätten uns nicht durchsetzen können", sagt Kubicki und warnt, mit dem Verlassen der Koalition würde die FDP ihr Scheitern dokumentieren und in der Opposition landen.
Blickt man auf die Umfragen, könnte es sich sogar um eine außerparlamentarische Opposition handeln, wie von 2013 bis 2017. Bei 4 Prozent liegt die FDP gerade, das würde nicht für den Einzug in den Bundestag reichen. Der Wert ist der Grund für manchen Frust. Alexander-Georg Rackow verweist auf eine andere Prozentzahl: 41 Prozent der Befragten des ARD-Deutschlandtrends haben sich gerade für Neuwahlen ausgesprochen, die meisten davon von AfD und Union.
Die Umfrage enthält weitere Zahlen: Bei Anhängern von Grünen und SPD gibt es eine deutliche Mehrheit für die Fortsetzung der Ampel, bei der FDP immerhin noch eine Mehrheit von 47 Prozent. 39 Prozent der Liberalen-Anhänger wollen raus aus der Koalition. Rackow findet, die FDP müsse den Umfragetrend aufnehmen, damit könne sie gewinnen. "Die FDP muss sich an die Spitze stellen und zeigen: Wir sind die Macher", sagt er. Sogar von denen, die aus Protest die AfD wählten, ließen sich so ein paar Prozentpunkte holen.
Mittlerweile hat sich auch der hessische Kreisverband Kassel eingemischt. Ein paar Tage nach der Veröffentlichung des Briefs startete dort ein Aufruf für eine Mitgliederbefragung: "Ampel beenden" steht darüber und es wird verwiesen auf die Niederlagen der FDP bei mehreren Landtagswahlen.
"Diese Regierung ist nicht gut für das Land. Dies zu erkennen und auszusteigen, ist auch ein Akt staatspolitischer Verantwortung", sagt Kreischef Matthias Nölke. Eine Neuwahl sei eine Option. "Es käme auch eine Jamaika-Koalition oder eine Groko infrage." Das eine bedürfte ein Misstrauensvotum im Bundestag gegen Kanzler Scholz, und die Grünen müssten den Wechsel zu Schwarz-Gelb-Grün mitmachen. Im zweiten Szenario säße die FDP quasi freiwillig in der Opposition.
Komplette Einigkeit besteht über die Optionen nicht: Rackow etwa findet, dass eine Zusammenarbeit mit den Grünen für die FDP nicht mehr möglich sei. Er empfiehlt eine Koalition aus SPD, Union und FDP.
500 Unterschriften sind laut FDP-Satzung nötig, um eine Mitgliederbefragung auszulösen. Nach anderthalb Wochen waren zum Ende der Woche knapp 200 beisammen. Es ist bislang nicht gerade ein Selbstläufer. Die Mitglieder müssten ja erst mal das Formular ausdrucken, ihre Mitgliedsnummer raussuchen und zum Briefkasten gehen, sagen die Initiatoren. Selbst in der Parteispitze geht man davon aus, dass 500 Unterschriften erreichbar sind. Bis Ende des Jahres wollen die Initiatoren sie zusammen haben.
Im Genscher-Haus in Berlin-Mitte bereitet man sich vor. Generalsekretär Djir-Sarai muss Varianten abwägen: Abstimmung online oder per Brief, das eine für die Mitglieder weniger aufwendig als das andere. Der Zeitplan lässt sich variieren und da kommen die Wahlen im kommenden Jahr ins Spiel: Die Europawahl im Juni und die Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen im Herbst gelten allesamt nicht als einfach. Werden die FDP-Mitglieder dann vorsichtiger? Oder erst recht aufmüpfig? Und wie viele Mitglieder müssen sich beteiligen, damit eine Befragung repräsentativ ist? Ein paar Tausend reichen sicher nicht, auch ein Drittel gilt noch als schwierig.
Eine Mitgliederbefragung ist nicht bindend, aber die Parteiführung geriete unter Druck, wenn die Befragung eine deutliche Mehrheit für einen Ausstieg ergibt. Entscheidend wird daher auch die Formulierung sein: Ampel ja oder nein, das wird nicht reichen.
Rackow sagt, es sei wichtig, das Thema mal von der Basis klären zu lassen. Er versichert: "Unser Ziel ist nicht, eine parteinterne Oppositionsgruppe aufzumachen. Eine liberale Version der Werteunion bringt uns nicht nach vorne. Wir wollen keine dauerhafte Spaltung der FDP." Am Freitag haben Djir-Sarai und zwei der "Weckruf"-Initiatoren telefoniert. Es heißt, es seien freundliche Gespräche gewesen.