
Damit rekrutierte die russische Armee im Laufe dieses Jahres fast so viele Kämpfer wie bei der Teilmobilmachung Ende September 2022, als sie 300.000 frische Kräfte zu den Waffen rief. Die damalige Mobilisierung hatte allerdings den für den Kreml unangenehmen Nebeneffekt, dass sich Hunderttausende junge Männer aus Russland absetzten. Denn gerade die Hochqualifizierten und gut Ausgebildeten wollen nicht als Kanonenfutter in einem Konflikt herhalten, dessen Sinnhaftigkeit sich ihnen häufig nicht erschließt.
Das russische Verteidigungsministerium geht deswegen inzwischen andere Wege, um die personelle Schlagkraft der Armee sicherzustellen. Im Frühjahr startete es eine riesige Werbekampagne zur Rekrutierung von Freiwilligen mit Massenwerbung im Internet und Reklametafeln auf den Straßen in riesiger Zahl. Diese Werbung ist durchaus verführerisch: Meist wird ein modern ausgestatteter, stolz und zuversichtlich wirkender Soldat gezeigt, was wohl den Helden- und Abenteueraspekt des Militärdienstes ansprechen soll. Auch an Pathos wird nicht gespart: "Vertragsdienst – echte Männerarbeit" heißt es da und "Wir lassen die Unseren nicht im Stich". Manchmal heißt es auch: "Der Sieg im Feuer geschmiedet."
Oftmals wird die Botschaft um ein handfestes finanzielles Argument erweitert: Einmalig 695.000 Rubel (6690 Euro) werden zum Dienstantritt in Aussicht gestellt und 204.000 Rubel (1960 Euro) pro Monat für den "Dienst im Gebiet der Spezialoperation". In Russland ist das viel Geld. Und es winken weitere Vergünstigungen für diejenigen, die sich für den Dienst an der Waffe in der Ukraine entscheiden: Am Montag zitierte die "Rossijskaja Gaseta" den stellvertretenden Premierminister Dmitri Tschernyschenko mit der Aussage, dass für das soeben begonnene neue akademische Jahr in Russland 8500 Studierende unter einer "Sonderquote" an den Universitäten des Landes eingeschrieben worden seien.
Dieses spezielle Kontingent steht Teilnehmern des Feldzugs in der Ukraine und ihren Kindern offen, die dabei partiell oder gänzlich von den vorschriftsmäßigen Eingangsprüfungen befreit werden: "Jedem dieser Studenten werden die regulären Studienbedingungen garantiert", sagte Tschernyschenko. "Wir überwachen sorgfältig die Einhaltung der ihnen zugesicherten Rechte."
Der stellvertretende Ministerpräsident spielte damit auf eine Gesetzesnovelle an, die Präsident Wladimir Putin im Frühsommer 2023 unterschrieben hat. Sie weitete den erleichterten Zugang zu Hochschulen für besondere Personengruppen aus. Zu den Begünstigten zählen etwa die Träger von soldatischen Tapferkeitsorden und ihre Kinder, Teilnehmer an den militärischen Auseinandersetzungen in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk seit 2014 und ihre Kinder, die Kinder von Kämpfern in Kriegen wie in Afghanistan, Syrien oder Tschetschenien, die Kinder von Medizinern, die sich während der Arbeit mit Corona infiziert haben und daran verstorben sind. Und eben auch ehemalige Kämpfer in der Ukraine und ihre Kinder.
Jede Universität darf die Zahl der Studienplätze, die für die Sonderquote bestimmt sind, selbst festlegen. Sie muss aber mindestens 10 Prozent aller verfügbaren Plätze jedes Studiengangs ausmachen. Bei den Hochschulen löst das offenbar nicht immer Freude aus: "Ich bin wohl der erste Mensch in der Geschichte, der mit solchen Noten angenommen wurde", amüsiert sich Dmitri in einem Youtube-Video. Der junge Mann gibt an, sich am Fachbereich für angewandte Mathematik und Informatik des renommierten Moskauer Instituts für Physik und Technologie (MIPT) eingeschrieben zu haben. Und zwar mit einem Testergebnis von 127 Punkten, weniger als der Hälfte der üblicherweise mindestens erforderlichen 290 Zähler.
Tigran und sein Schulfreund Nikita leben in dem von Russland besetzten Berdjansk. Weil sie mit der ukrainischen Armee zusammengearbeitet haben sollen, werden sie immer wieder verhört. Neun Monate später sind die beiden Teenager tot. Im Fach Informatik habe er sogar überhaupt keine Prüfung ablegen müssen. Er sei davon befreit gewesen, weil sein Vater ein Jahr in der Ukraine gekämpft habe und dabei verletzt worden sei. Bei einem Gespräch am MIPT seien ihm Aufgaben vorgelegt worden, die er nicht habe lösen können. Die Universitätsangestellten hätten ihn dann inständig von seinem Studienvorhaben abbringen wollen: "Sie haben gesagt, dass ich scheitern werde", räumt Dmitri freimütig ein. "Sie haben mich gefragt: ‚Weißt du, wo du hier bist?‘, und ich habe ihnen erklärt, dass ich mich auf jeden Fall einschreiben werde, weil ich das Recht dazu habe."
Dmitri ist offenbar kein Einzelfall, was für die Eliteuniversitäten Russlands wohl bedeutet, dass nun bis zu einem bestimmten Grad das Prinzip Masse statt Klasse herrscht: Wie das unabhängige Investigativnachrichtenportal iStories schon im August herausfand, hätten 13 der Hochschulen, die in den QS World University Rankings als die 15 beste Universitäten Russlands ausgewiesen werden, 164 Studenten ohne jede Aufnahmeprüfung zulassen müssen, weil ihre Väter in der Ukraine verletzt oder getötet wurden.
Weitere 621 Studenten hätten sich den Aufnahmeprüfungen an diesen 13 Top-Universitäten Russlands stellen müssen, weil ihre Väter in der Ukraine zwar gekämpft, ihren Einsatz aber unversehrt überstanden haben. Allerdings hätten 69 Prozent dieser Bewerber die Aufnahmeprüfungen unter regulären Bedingungen nicht bestanden, sie hätten von den Hochschulen unter dem neuen Gesetz aber aufgenommen werden müssen. Unter solchen Bedingungen werden den russischen Streitkräften in der Ukraine die Soldaten so schnell wohl nicht ausgehen.
dp/fa