Prinzipiell ist die Option ebenso wie die Schuldenbremse selbst im Grundgesetz verankert: Bei Naturkatastrophen oder "anderen außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen", darf der Staat zusätzliche Kredite aufnehmen. Während der Pandemie und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde das gemacht. Für 2023 wollen es die Ampelparteien nachholen, um nachträglich unter anderem die Finanzierung der Energiepreisbremsen auf legale Füße zu stellen.
Ob sie auch 2024 eine Notlage ausrufen werden, ist indes unklar: Bei SPD und Grünen liebäugeln viele damit, die FDP hingegen hat Hemmungen. Er sei "noch nicht davon überzeugt", dass die Voraussetzungen vorlägen, sagte etwa Parteichef und Finanzminister Christian Lindner am Mittwoch dem ZDF. Doch was sind diese Voraussetzungen überhaupt?
"Eine Notlage wird verstanden als ein plötzlich eintretendes externes und damit im Kern unerwartetes und eher punktuelles Ereignis", fasst es Jurist Alexander Thiele zusammen. Der Professor für Öffentliches Recht hat das Finanzministerium während des Prozesses in Karlsruhe vertreten. "Das Urteil hat diese enge Auslegung jetzt bestätigt", sagte Thiele. Grundsätzlich sei nun klargestellt, dass die Klimakrise – anders als durch sie verursachte Naturkatastrophen – keine Notlage im Sinne der Schuldenbremse rechtfertigt.
Ein auslösendes Ereignis muss ihm zufolge allerdings nicht zwangsläufig im jeweiligen Haushaltsjahr eingetreten sein: "Das Gericht geht zwar davon aus, dass Notlagen auch mehrere Jahre anhalten können, verlangt dann aber gleichwohl einen jährlichen Notlagenbeschluss", fasst Thiele zusammen.
Die Notlage jedes Jahr von Neuem zu begründen ist eine Herausforderung für die Politik. In der "Zeit" erklärte Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio, dass der zeitliche Zusammenhang mit dem 2022 begonnenen Ukraine-Krieg und der Energiekrise auch in diesem Jahr eine Notlage rechtfertige. Allerdings: "Für das Jahr 2024 noch einmal eine Notlage auszurufen könnte schwierig werden", so Di Fabio.
Der frühere Karlsruher Richter bringt damit unbewusst das Spannungsverhältnis zum Ausdruck, in dem sich die Haushaltspolitik nun aus ökonomischer Sicht bewegt: "Den Beginn einer Notlage zu bestimmen ist in der Regel deutlich einfacher als ihr Ende", meint die Vorsitzende des Sachverständigenrats für Wirtschaftsfragen, Monika Schnitzer. "Es ist deshalb Auslegungssache, wann man davon sprechen kann, dass die Auswirkungen überwunden sind", sagte Schnitzer.
Gut möglich, dass diese Auslegung am Ende erneut vom Verfassungsgericht vorgenommen werden muss. Schnitzer selbst hält eine erneute Notlage sowohl 2024 als auch 2025 für denkbar, allerdings ohne sich klar dafür auszusprechen. "Die Energiekrise hat längerfristige Auswirkungen, denn sie zwingt uns, als Gegenmaßnahme den Ausbau der erneuerbaren Energien, der Energieinfrastruktur, den Bezug von Wasserstoff zu beschleunigen", sagt sie.
Auch verweist die Ökonomin darauf, dass Lieferketten nach den Erfahrungen während der Pandemie resilienter werden müssten, angesichts des Kriegs in der Ukraine in Verteidigung investiert werden und das angegriffene Land unterstützt werden müsse. Darüber hinaus bestehe die Notwendigkeit, die Abhängigkeit von China zu verringern und die hiesige Chip- und Batterieproduktion zu stärken.
Ihr Kollege aus dem Sachverständigenrat, Martin Werding, sieht es anders: "Wenn man die aktuell andauernden Haushaltsbelastungen im Einzelnen durchgeht, erweisen sie sich eher als "New normal", das im Rahmen der laufenden Haushaltspolitik zu bewältigen ist", sagte er. Die Energiepreise befänden sich wieder deutlich unter dem Spitzenniveau vom vergangenen Winter, auch die Zinsen für Staatsanleihen seien "nicht ungewöhnlich hoch".
Verglichen mit den Erfahrungen 2015/2016 sei auch bei den Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine keine außergewöhnliche Notsituation erkennbar. Lediglich bei der Unterstützung für die Ukraine sieht er Unwägbarkeiten, falls etwa die USA als Unterstützer wegbrechen sollten. "Aber das ist bei Weitem nicht genug für eine Aussetzung der Schuldenbremse", zeigte sich Werding überzeugt.
Schlussendlich, das zeigt ein Vergleich beider Einschätzungen, geht es also um die Frage, wie weit Deutschland bei der Krisenbewältigung vorangeschritten ist. Welcher Einschätzung das Verfassungsgericht im Fall einer Klage folgt, ist unmöglich abzusehen. Mit Sicherheit würden die Richterinnen und Richter Sachverständige anhören, die mediale Berichterstattung verfolgen sie sowieso. Eine zentrale Rolle werde aber spielen, wie die Bundesregierung eine erneute Rücklage begründet, hatte Thiele schon kurz nach dem Urteil bei einer Veranstaltung von "Fiscal Future" gewarnt.
Schnitzer, die Vorsitzende der sogenannten Wirtschaftsweisen, ist mit dieser Unsicherheit nicht glücklich. Sinnvollerweise müsste mit Daten und empirischer Evidenz über eine Notlage diskutiert werden, "die aber oft erst mit Verzögerung zur Verfügung stehen", so die Münchner Ökonomin.
"Ich denke, es spricht einiges für eine Reform der Schuldenbremse, die einbezieht, dass nach einer Notlage die längerfristigen Konsequenzen mitbedacht und berücksichtigt werden müssen", sagt sie. Sowohl die Energiekrise als auch etwa die Flutkatastrophe im Ahrtal hätten nicht mit dem jeweiligen Haushaltsjahr geendet. "Eine Ausnahmeregel der Schuldenbremse muss für solche längerfristigen Konsequenzen Spielräume ermöglichen", findet Schnitzer.