"Schönen Dank für die vielen Transparente", leitet er ein. "Aus meiner Sicht ist es eine große Bedrohung, die der russische Angriffskrieg darstellt." Doch für Scholz ist es eine "zynische Aussage", einem angegriffenen Land zu sagen, es solle verhandeln, statt sich zu verteidigen. Lauter Applaus im Saal.
Am Sonntag ist die Gewerkschaft Verdi in ihren sechstägigen Bundeskongress gestartet, der alle vier Jahre stattfindet. Etwa 1000 Delegierte treffen sich unter dem Motto "Morgen braucht uns", um über die inhaltliche Aufstellung der Gewerkschaft zu diskutieren. Oder wie es die Vorsitzende des Gewerkschaftsrats, Martina Rößmann-Wolf, ausdrückt: "Wir werden Pläne schmieden gegen Missstände in der Gesellschaft." Auf dem Kongress soll unter anderem der Bundesvorstand neu gewählt werden: Frank Werneke will Gewerkschaftschef bleiben. In Deutschland sei die Schere zwischen arbeitender Armut und Privilegien für Erbschaften und große Vermögen viel zu weit geöffnet, sagt er. Die Steuern "für Reiche und Krisengewinner" müssten angehoben werden.
Die Gewerkschaft Verdi, die aktuell mit 1,9 Millionen steigende Mitgliederzahlen verzeichnet, hat Monate mit harten Tarifverhandlungen hinter sich. Für die Beschäftigten der Deutschen Post setzte sie beispielsweise nach eigenen Angaben mehr Gehalt von bis zu 16,1 Prozent durch. In den Verhandlungen im Bereich des öffentlichen Dienstes konnten sie laut Werneke für die allermeisten Beschäftigten mehr als 11 Prozent erkämpfen. Gleichwohl hatte Verdi vorab hohe Erwartungen geschürt, die mitunter enttäuscht wurden. Die lange Laufzeit von 24 Monaten des neuen Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst etwa gehört zu den kritisch gesehenen Punkten. Scholz geht in seiner Rede ebenfalls auf Tarifbindung ein, die in Deutschland zurückgeht: "Wir brauchen mehr Tarifverträge und nicht weniger." Als Kanzler wolle er sich für eine stärkere Tarifbindung einsetzen, sagt der Sozialdemokrat.
Für Verdi und Co. müsste es mit der gewerkschaftsnahen SPD im Kanzleramt aktuell gute Rahmenbedingungen geben. Doch die Mitglieder blicken besorgt auf die Preissteigerungen, die die Tariferhöhungen teilweise wieder auffressen. Und die begrenzten Haushaltsmittel haben etwa die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst massiv erschwert. Außerdem beklagen sich Verdi und Co. seit Monaten über mangelnden sozialen Fortschritt durch die Ampelkoalition. Werneke nennt den Streit um die Kindergrundsicherung am Sonntag ein "unwürdiges Gezerre". Scholz aber sieht das anders, geht in seiner Rede etwa auf die Bürgergeldreform und Kindergelderhöhung ein. Und er versichert, das Rentenniveau über 2025 hinaus stabil zu halten.
Debatten werden auf dem Kongress nicht nur wegen der Sozialpolitik erwartet, sondern auch aufgrund des russischen Angriffskrieges. Der Gewerkschaftsführung bringt einen Leitantrag mit dem Titel "Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch" ein, der vorab für Diskussionen gesorgt hatte. Verdi ist bemüht, unterschiedliche Meinungen darin vorkommen zu lassen.
Die Entscheidung der Europäischen Union wie auch der Bundesregierung, den russischen Angriff auf die Ukraine nicht unbeantwortet zu lassen und der angegriffenen Ukraine auf vielfältige Weise zu helfen, sei grundsätzlich richtig, heißt es beispielsweise. Es ergebe sich für die unterstützenden Staaten eine besondere Verantwortung, nicht selbst zu einer Kriegspartei zu werden, lautet das Papier. Es dürfe keine "grenzenlosen Auf- und Hochrüstung der Bundeswehr und der Nato" geben. Es wird gleichwohl die Bedeutung der Bündnisverteidigung betont.
Vorab hatten Verdi-Delegierte eine Onlinepetition gegen den Antrag gestartet, die bis Sonntag mehr als 11.000 Unterschriften bekommen hat. Darin wenden sich die Mitglieder gegen einen "Schulterschluss der Gewerkschaften mit der deutschen Regierung" in der Ukraine-Politik. Olaf Scholz aber wird am Sonntag deutlich: "Wir wünschen uns alle Frieden, niemand mehr als die Ukrainerinnen und Ukrainer." Aber die Grundlage für Verhandlungen sei, dass Putin Truppen zurückziehe, mahnt der SPD-Politiker.
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