Beim EU-Gipfel bis zu diesem Freitag ist die weitere Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg eines der Topthemen. Auf der Tagesordnung standen zudem die künftige Migrationspolitik der EU und die wirtschaftliche Lage der Gemeinschaft sowie das Verhältnis zu China. Zu Beginn äußerten sich viele Gipfel-Teilnehmer aber vor allem zur unklaren Lage in Russland nach der Konfrontation des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin mit Präsident Wladimir Putin. Prigoschin ließ am Samstag zeitweise seine Kämpfer Richtung Moskau marschieren, gab dann aber überraschend auf und erklärte sich bereit, ins EU-Nachbarland Belarus überzusiedeln - mit einer unbekannten Zahl von Söldnern.
Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer machte am Donnerstag am Rande des EU-Gipfels deutlich, dass sein Land für solche Zusagen die notwendige Zustimmung verweigern würde. Zudem hätten auch Irland, Malta und Zypern klar Bedenken angemeldet, erklärte er. Im Vorfeld des Gipfels hatten unter anderem östliche EU-Staaten darauf gedrungen, dass sich die EU an den Bemühungen um Sicherheitsgarantien für die Zeit nach dem möglichen Ende des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine beteiligen solle. Dies könnten zum Beispiel konkrete Zusagen für Militärhilfen oder auch Beistandszusicherungen für den Fall eines Angriffs sein. Nehammer sagte am Donnerstag zum Thema Sicherheitsgarantien wörtlich: "Da ist es für uns als neutrale Staaten klar, dass es diese so nicht geben kann." Österreichs militärische Neutralität ist in einem Bundesverfassungsgesetz aus dem Jahr 1955 geregelt.
Im Entwurf für die Abschlusserklärung des EU-Gipfels ist nun nicht von Sicherheitsgarantien, sondern von Sicherheitszusagen die Rede, worunter in der Regel keine direkte militärische Unterstützung verstanden wird. Konkret heißt es dort: "Die Europäische Union und Mitgliedstaaten sind bereit, gemeinsam mit Partnern zu künftigen Sicherheitszusagen gegenüber der Ukraine beizutragen, die der Ukraine dabei helfen werden, sich langfristig zu verteidigen, Aggressionshandlungen abzuwenden und Destabilisierungsbemühungen zu widerstehen." Modalitäten eines solchen Beitrags sollten zügig geprüft werden.
Ändern könnte sich die Lage für die Ukraine, wenn sie irgendwann einmal wie angestrebt in die EU aufgenommen wird. Dann würde das Land Artikel 42.7 des EU-Vertrags in Anspruch nehmen können. In ihm heißt es: "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung". Die Nato will aktuell keine Prognose über sicherheitspolitische Auswirkungen von Prigoschins Aufstands geben. "Es ist zu früh, um endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen - auch weil noch nicht klar ist, wie viele der Wagner-Kräfte in Belarus oder anderswo landen werden", sagte Stoltenberg am Rande des EU-Gipfels
Bundeskanzler Scholz stellte klar: "Unser Ziel hier ist nicht ein Regierungswechsel, ein Regime Change in Russland. Unser Ziel, das wir verfolgen, ist eine unabhängige Ukraine." "Wir sind nicht Partei dessen, was in Russland geschieht", betonte er. Deutschland könne nur beobachten. Auf eine Frage zu möglichen Sicherheitsgarantien für die Ukraine sagte Scholz: "Wir haben uns als Staaten verpflichtet, dass wir auch zukünftig der Ukraine etwas schulden, was ihre Sicherheit betrifft."
Polen hatte am Mittwochabend bekanntgegeben, wegen der geplanten Verlegung von Wagner-Söldnern nach Belarus seine Ostgrenze noch stärker sichern zu wollen. Geplant sei sowohl eine Aufstockung der dort stationierten uniformierten Kräfte als auch eine Erhöhung der Anzahl "verschiedener Arten von Hindernissen und Befestigungen zum Schutz unserer Grenze im Falle eines Angriffs", sagte Vize-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski.
Der lettische Regierungschef Krisjanis Karins sagte, die Tatsache, dass in Belarus eine unbekannte Zahl von ausgebildeten Kämpfern stationiert werde, könne zur Bedrohung werden. "Die Bedrohung wäre wahrscheinlich nicht eine frontal militärische, sondern der Versuch der Infiltration Europas für unbekannte Zwecke. Das bedeutet, dass wir den Grenzen besondere Aufmerksamkeit widmen müssen und sicherstellen müssen, dass wir das kontrollieren können." Litauen kündigte seinerseits am Donnerstag an, die Kontrollen an seinen Grenzen zu Russland und Belarus zu verstärken.
Überschattet werden könnte der Gipfel vom Streit über die Begrenzung von Migration und die Verteilung von Geflüchteten in der EU. Ungarn und Polen hatten sich zuletzt sehr kritisch über den von den EU-Innenministern erreichten Kompromiss geäußert und eine Vetodrohung in den Raum gestellt. Bundeskanzler Scholz zeigt sich davon jedoch unbeeindruckt. Der vereinbarte Solidaritätsmechanismus sei ein großer Durchbruch und etwas, das man schon lange zuvor gebraucht hätte, sagte der SPD-Politiker.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen setzte sich beim EU-Gipfel für mehr legale Migration nach Europa ein. Dies sei "auch ein Weg, um die kriminellen Aktivitäten von Schleusern und Menschenhändlern zu bekämpfen", sagte sie. Aus dem gleichen Grund seien Investitionen in die wirtschaftliche Stabilität der Herkunftsländer wichtig, um sicherzustellen, dass es qualifizierte, legale und sichere Migration gebe. Sie kündigte Berichte dazu an, wie man die EU-Außengrenzen stärken könne.
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